180 14, 17. Januar 1935. Fertige Bücher. «Sisenblatt s. d.DIIchn.BuchlMNdel, ^^/ieses Buch ist nicht Literatur, es ist nicht einmal Dichtung im gewöhnlichen Sinn. Denn es ist viel mehr als alles dieses. Es sind die wirklichen Briefe zweier wirklicher Menschen. Es ist reine Wirklichkeit und steht mitten in der Zeit. Aber es ist nicht jene Wirklichkeit, die man früher allein als solche gelten ließ. Es ist nicht jene Wirklichkeit, die sich dadurch als solche auoweist, daß ste recht alltäglich, recht elend und voller Flecken ist. Es ist vielmehr eine ganz große und wunderbare Wirk lichkeit zweier Menschen unserer Zeit. Und darum ist es Trost und Hoffnung für diese Zeit selbst, ist Ansporn und Muk, ist Glaube und Zuversicht für uns alle. Denn solange Europa solche Menschen hak, wie diese, ist es nicht verloren, und das Abendland geht nicht unter. Was geht uns die Liebe, das individuelle Erleben zweier Menschen an?, könnte man versucht sein zu fragen. Und man muß antworten: Es ginge uns gar nichts an, wären diese Menschen nicht von der seltenen Art, an der uns alles angehen muß. Denn hier wird die Liebe zugleich zur Erschließung und Entfaltung des Menschen selbst. Diese Kraft des Liebeserlebnisses, das beide in immer reinere, wär mere und doch zugleich heiligere Gebiete ihres inneren Menschentums führt, die ihren ganzen unsäg lichen Reichtum erst ans Licht bringt, diese Kraft in all ihrer Anmut und Stärke, ihrer Zartheit und Verschwiegenheit, aber auch in ihrer Glut und Leidenschaft zu sehen und mitzuerleben, das bedeutet für den Leser selber Befreiung, Reinigung und Erhebung. Hier ist einmal wieder unerschütter lich bewiesen, daß die Liebe zwischen Mann und Frau Steigerung und Entwicklung des ganzen Menschseins bedeuten kann; damit ste es bedeute, bedarf ste allerdings der Menschen, die dazu fähig sind: Stark, klar, gesund, schön, rein an Leib und Seele, ebenso tief im Gefühl wie streng im Gedan ken, ebenso empfänglich für alle stimmhafte Schönheit wie für allen Ernst und alle Unerbittlichkeit des Geistes. Da ist der Mann ebenso kühn wie zartfühlend und ritterlich, da ist die Frau ebenso bereit zur Hingabe wie streng gegen sich selbst und ihr inneres Gesetz. Solche Menschen zu erleben, um ste zu wissen, das allein schon ist Wegzehrung und Kraftquelle. Aber noch aus anderen Gründen ist das Buch genußreich und fördernd: Im Wesen der beiden Liebenden spiegelt sich die Welk, unsere heutige, sehr mangelhafte Welk, unser heutiges, sehr zweifel haftes Europa. Wir erleben mit ihnen alle die Sehnsüchte und Spannungen unserer Zeit und be gegnen mit ihnen anderen Menschen unserer Zeit, die sich ernst sorgen, die zusammenbrechen unter der Bürde, und sich tapfer bemühen um dieses Europa, indem ste ein besseres Europa ersehnen, erstreben, vorzubereiten versuchen. Am Horizont erscheint dieses andere Europa, in dem endlich die Völker gleichberechtigt und als gleiche, friedliche Partner zusammenstehen, sich brüderlich achtend in ihrer Eigenart und sich verbindend im gemeinsamen Erbe und gemeinsamen Schicksal. Dies alles ziechnet sich im Briefwechsel mit vielen Einzelgestalten, die wir durch die Augen der beiden liebenden, gütigen Menschen in einem hohen und klaren Lichte sehen, zeichnet sich fast ganz auf dem Hinter gründe der schon ein wenig südlichen, vom Golddunste des Frühjahrs und Sommers zart umhauchten Landschaft des Genfer Sees. Der Leser geht durch die Welt der beiden Menschen, geführt von ihnen,