2460 Börsenblatt f. l>. Drschn. Buchhandel. Fertige Bücher. ^ 91, 22. April 1915. Ein russischer Roman Der Krieg hindert uns Deutsche natürlich nicht, die kulturelle Bedeutung unserer Feinde in ge rechter Weise einzuschätzen. Die furchtbare Bar- barei des russischen Staates hat uns nie ab gehalten, der russichen Seele zu horchen, wie sie sich in den Werken der größten russischen Dichter an ihrer Spitze Dostojewski und L. N. Tolstoi offenbart. Sie ist etwas Erstaunliches für uns und etwas Rätselhaftes. Wir können nicht sagen, daß wir sie restlos verstünden. Noch überwiegt in uns ihr gegenüber das Gefühl einer fernen Fremde. Von der Kultur des Westens sind wir selber ein Teil. Keine ihrer Äußerungen ist uns unfaßbar, sie zeigt überall verwandte Züge. Der großrussische Geist hat gleichsam ein uns abgewendetes Antlitz, das wir bloß in einigen Linien zu erraten glauben. Die fortschreitende Entwicklung dieses Geistes und unser rastloses Bemühen, in ihn einzudringen, wird auch da wohl Wandel schaffen. Dostojewski und Tolstoi, sowie andere große russische Dichter zeigen uns den Zustand der russischen Seele, aber wie sie geworden ist, erzählen sie uns nicht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Da muß die geschicht liche Forschung einsetzen und jene Literatur, der es nicht um höchste künstlerische Zwecke geht, die gewisse aktuelle Tendenzen verfolgen. Ein solches Buch ist vor einiger Zeit erschienen, und es hat gerade jetzt ein besonderes Interesse.*) Der Verfasser ist ein politisch Konservativer, ein entschiedener Gegner der Revolution. Der gut geschriebene und spannende Roman dieses Pa trioten, der sein Land und sein Volk liebt, will *j Iwan A. Rodionow. Unser Verbrechen. Erlebtes — nicht Erdachtes. Ein Roman aus dem russischen Volksleben. Übertragen von Axel Ripke. die Gründe aufdecken, die es verursachen, daß das russische Volk in geistiger und materieller Not dahinsiecht. Obwohl ein Gegner aller revo lutionären Bestrebungen, sieht er die Notwendig keit der Rettung des Volkes ein. Er glaubt, diese Rettung müsse von oben kommen. Die Ursache des jammervollen Zustandes des russischen Volkes sieht er im Alkohol, im wüstesten Aber glauben, in der Verderbnis des Beamtentums und in dem Mangel an jedweder Schulbildung. Man hat ja Rußland im jetzigen Kriege wegen des Alkoholverbots gerühmt. Aber wenn auch der Alkohol den Soldaten jetzt unzugänglich ist, so sucht sich die Bevölkerung doch auf listigen Wegen Alkohol oder schlechtesten und schädlichen Ersatz zu verschaffen. Außerdem ist dieser Anti alkoholismus der russischen Regierung wohl nichts weiter als eine Kriegsnotwendigkeit. Die Ein künfte des russischen Staates sind zu sehr auf dem Alkohol ausgebaut, als daß man erwarten könnte, daß nach dem Kriege nicht die alte Schnaps wirtschaft wieder eingeführt wird. Obwohl der größte Feind des russischen Volkes, ist er nicht der einzige. Die mangelnde Schulbildung, über haupt der unglaubliche geistige Tiefstand des Volkes, der durch die absolute Selbstherrschaft des Zaren bedingt ist, ist ein nicht kleinerer Feind. Ihn zu besiegen, wird erst möglich sein, wenn ein neues Rußland entsteht, dessen Ab sichten nicht auf äußere Machtvergrößerung, sondern auf innere Kulturvermehrung geht. Wird in diesem Kriege Rußland ganz bezwungen, so wäre das nicht allein für Europa, sondern auch für das russische Volk ein Glück. Insofern der genannte Roman ein trostloses, aber an schauliches Bild des inneren Rußland gibt, ist seine Lektüre gerade jetzt sehr zu empfehlen. Engelbert Pernerstorfer im »März" vom 3. Kpril 1Y15 Rechte Seite. I Literarische Anstalt Rütten L Loeningj Frankfurt a.M. Zllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllli