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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 28.03.1929
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- 1929-03-28
- Erscheinungsdatum
- 28.03.1929
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74, 28. März 1929. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Das Buch kommt nicht zum Menschen, — der Mensch muß zum Buche kommen und Zeit für das Buch haben, — nur ein freier Mensch vermag das. Und daß wir nicht zum Buche finden, — zeigt das nicht den Grad unseres inneren seelischen und geistigen Versklavtseins an, unseres Vcrsklavtscins an die Hast eines Betriebslebens, das uns immer mehr entmenscht und zu Staub der Erde macht. So wäre denn unser Menschentum zugleich mit unserem Volkstum in Gefahr. — Käme die Ruhe über uns, käme uns die Gnade der Ruhe könnten wir sie uns erringen, die heilige Ruhe, — daß der Vater wieder Zeit hat, seine Kinder zu sehen, mit ihnen zu plaudern, mit ihnen gemeinsam in einem Bilderbuch zu blättern, — käme uns die Ruhe, daß Mann und Frau, die aus ihren Ar- beitswcgen getrennt dahin leben, innehaltcn könnten, weil die Sklavenpcitsche nicht mehr über ihnen pfeift, daß sie sich wieder als Liebende erkennen könnten über einem gemeinsamen Buch und Scherz, — fänden wir die Ruhe Umschau zu halten, — so halten wir innc in der Hast der drcihuitdertfünfundsechzig Tage des Jahrs, — halte innc, Du Vater, Du Mutter und schaue, wer ohne, daß Du cs weißt, bei Deinen Kindern in der Ecke hockt, — halte inne Lehrer, Forscher, Dichter, — gibst Du Brot oder Steine. Wie stehst Du zu deinem Volk und seinem Schicksal, halte innc, deutsches Volk und gehe einen Tag zu deinen Müttern und Meistern, — in Büchern liegen sic wie in Särgen, — aber das Leben steigt aus ihnen auf, wenn du sie erbrichst, — sic stehen in einem Schrank, liegen auf einem Tisch, in der Schule, in einer Volksbüchcrhalle, schwimmen mit einem Schiff über das Meer, weben an dem Schicksal deiner Kinder, deiner Brüder und Schwestern, an deinem eigenen Schicksal, wirken hinein in fremde Völker, die unsichtbaren Regenten der Welt und des Schicksals der Völker. Wann, deutsches Volk, hast du dich freigckämpft aus der Tageskncchtschast, Gast und Freund zu sein der Edelsten, die gelebt haben und leben? Wann — wann —? Eugen Diederichs / Die Krifis des deutschen Buches. Ich wollte, an meiner Stelle spräche zu Ihnen Paul La- gardc, der Mahner deutschen Wesens in der Bismarckschen Zeit. Er wurde freilich von seinen Zeitgenossen wenig beachtet — desto mehr ist er heute geliebt von allen Deutschen, die von einer zu künftigen stolzen Haltung, von einer auf Geistigkeit beruhenden Würde ihres Volkes träumen. Er, der das Geborene liebte und Feind von allem Gemachten war, würde an den Anfang seiner Ansprache vielleicht das Wort Besinnung fetzen und sie am Schluß mit dem Wort Gesinnung beenden. Denn Besinnung gebiert Gesinnung. Gesinnung aber kann man sich nicht anlcscn und erwirbt sic auch nicht durch Vorpredigcn, sondern sie erwächst aus einem eignen geistig gelebten Leben. Vor hundert Jahren und mehr lebte in Weimar und Jena ein literarischer Kreis sowohl in Besinnung wie in Gesinnung dem Leben gegenüber. Wir nennen seine Angehörigen unsere Klas siker. Und heute ist Tatsache, daß ihre Werke zu den Ladenhütern in den Buchhandlungen gehören. Diese Tatsache erhellt blitz schnell die Situation des heutigen guten Buches. Gutes Buch ist ein allzu nichtssagender Ausdruck. Ich möchte es als das Buch bezeichnen, das das Leben deutet. Es gibt auch seltene Bücher, die das kommende Leben gestalten helfen, wie etwa Nietzsches Zarathustra, aber dazu gehört immer der Genius. Was heißt das, daß ein Buch das Leben deutet? Ich ver stehe nicht darunter, daß cs das Leben zerfasert durch überspitzte Psychologie, daß es das Leben übertrumpft durch geil wuchernde 340 Abenteuerlust, daß es das Leben einseitig verengt durch ge steigerte Sexualität. Sondern ein Buch, das das Leben deutet, führt den Menschen aus der Enge seines Daseins und seiner materiellen Bedingtheit hinayF in die Weite, in das Reich der Seele. Also ein Buch, das in dieser Weise aufbauend ist, heiligt das Leben, weil es seinem Leser Heil bringt. Seien wir uns klar, cs gibt für jede Kunst, sei es die bildende oder die Architektur oder die des Wortes, fruchtbare Perioden des Schaffens und weniger fruchtbare nach dem Gesetz der Systole und Diastole, dem Einatmen und Ausatmen mit der dazwischen liegenden schöpferischen Pause. Auch unsere Klassiker sind nicht tot oder haben umsonst gelebt, sondern der Lcbensstrom, der von ihnen ausging, fließt augenblicklich unterirdisch. Er wird zu ge gebener Zeit wieder hcrvorbrcchcn. Augenblicklich leben wir nicht in einem Zeitalter, das ernster Literatur günstig ist. Wir leben in einem Zeitalter jungen Wil lens, das sich von der Technik beflügelt sicht. Wir leben in einem Dicsseitscmpsindcn, das ausruft: »heute und hier«. Wir suchen Entspannung nach angestrengter Arbeit nicht in innerer Kon zentration, sondern im Reiz der Nerven und der Sinne. Es ist, als ob uns eine neue Jugendlichkeit erfaßte, als bereite sich ein neuer Glaube an neue Ziele vor. Aber sicher lebt die kommende Wcscnsgcstaltung noch verborgen. Das zeigt schon das Schlagwort der heutigen Zeit »d i c neue Sachlichkeit«. Die neue Sachlichkeit folgte dem Ex pressionismus, der zwar Ausdruck der Geistigkeit war, aber per sönliche Willkür innerhalb der Geistigkeit bedeutete. Das neue Sachlichkeitscmpfinden ist gewissermaßen Selbstbesinnung auf die Realität des Lebens im Masscndenkcn und entspringt dem Wirk lichkeitssinn der Gegenwart, entspringt dem seelischen Erleben der Kricgsjahre mit dem darauffolgenden Zusammenbruch. Es Paart sich aber auch zugleich mit einer gewissen Nüchternheit jenes amerikanischen Denkens, das von Tradition nichts weiß und daher die Gegenwart für das alleinig Bedeutsame ansicht. So erscheint ihr die Technik und die damit zusammenhängenden Fortschritte der Zivilisation als das Wichtigste. Jeder Mensch ist im Grunde seines Wesens einsam und sucht nach Bindung zu anderen Menschen. Zivilisation verstärkt diese Einsamkeit, denn an Stelle der Bindung zu anderen Menschen setzt sic das Amüsement. Kultur löst diese Einsamkeit, denn sie bindet Mensch an Mensch. So erlösen die an der Kultur schaffen den Bücher die Menschen von ihrer Einsamkeit. Sic führen sie zu ihren Mitmenschen heran, sic führen sie auf jenen Weg, an dessen Ende das Wort: Gesinnung steht. Es ist an der Zeit, daß wir nicht in dieser neuen Sachlichkeit — sofern sie mit materialistischem Denken verknüpft ist — stecken bleiben. Haben wir doch eine jahrtausendalte Kulturtradition, die uns mahnt, unsere deutsche Eigenart in uns zu spüren. Jetzt innerhalb der neuen Sachlichkeit sind wir grundsätzlich füralles interessiert, nicht nur innerhalb Europas, sondern für alle Dinge auch in dem fernsten Erdteil. Gut, sagen wir, es sind das die Vorboten einer kommenden Wcltkultur. Aber schaffen können wir diese Wcltkultur als beteiligtes Mitglied erst, wenn wir das Nächste, nämlich uns selbst in unserem Wesen verstehen und Bin dungen zu dem haben, was uns umgibt. Ich glaube, ich gehe nicht fehl, wenn ich nach den Gesetzen des Rhythmus als nächste Stufe der literarischen Entwicklung den Ruf »synthetischer Realismus« prophezeie. Er will etwas anderes als der »symbolische Realismus- zur Zeit Ibsens. Jener bedeutete psychologische Analyse, verbunden mit Proble matik des Lebens. Den »synthetischen Realismus« hoffe ich noch zu erleben. Er wird unsere Literatur dadurch befruchten, daß sie ihre Kräfte erhält aus wirklichen Bindungen, nämlich aus der Verwurzelung des Menschen in Landschaft und im Blutserbe. Das braucht keine sentimentale Heimatlitcratur zu sein, sondern sie schafft im Bewußtsein der Verjüngungskräfte der Natur. Freilich gehört dazu ein organisches Verstehen der Natur in ihrem Wunder von Form, Farbe und Gcstaltwandel. Dann ge hört dazu ein Verstehen der geschichtlichen Entwicklungen. Denn Geschichte ist nie Tatsachenbericht, sondern ein Verdichten der Er eignisse und ein Erkennen allgemein gültiger Lebensgesctzc. Sie
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