Nr. 43. Leipzig, Mittwoch den 20. Februar 1S3S. 1V2. Jahrgang. „Kilt größtem Anteil kabe ick dieses Vuck durckgeiesen... von Sette ru Seite stärker gefesselt durck das lcklickte wakre Viesen der Sckreiberin..urteilt -^gnes Siegel über die maligen'. Seelisch war das eigentlich eine Erholung. Nach so vielen Jahren war man wieder einmal unter anständi gen Menschen, unter bourgeoisen Menschen, wie es bei uns heißt. Peinlicher war schon, daß man inzwischen einen älteren Geistlichen und einen jungen ,weißen' Offizier erschossen hat. Beide waren liebenswürdige Menschen. Dann war da ein anderer hoher Geistlicher. Der hat früher so ziemlich die ganze Welt gesehen. Was hat er uns alles erzählt! Wir haben manchmal Fremdsprachen getrieben. Ich konnte früher gut Englisch. Der Geistliche und ein früherer Gerichtspräsident beherrschten es auch. — Viel haben wir gesprochen: über Rußland, über die weitere geschichtliche Entwicklung des Landes." — „Und das Ergebnis?" — „Das Ergebnis unserer Aussprache war — Geduld! — Später saß ich in Einzelhaft. Mich per sönlich hat man eigentlich nicht schlecht behandelt. Ich hatte nicht weniger zu essen als in der Freiheit. Om Som mer hackte ich Holz, um etwas Bewegung zu haben. Dreimal war ich zum Verhör, und eines Tages ließ man mich heraus. Jetzt arbeite ich weiter und bleibe ein paar Monate hier in Moskau." Er schweigt ein Weilchen. „Gut, daß ich keine Angehörigen habe, die wären mitt lerweile verhungert!" Etwas so verzweifelt Ergebenes höre ich aus feinen Wor ten heraus. „Wird es denn gegen dieses System gar keine Waffen geben?" frage ich. „Die Erkenntnis, welch unend licher Schatz das Vertrauen ist! Diese Erkenntnis muß das ganze Volk erfassen. Der Drang zur Wahrheit und die Kraft, diese Wahrheit durchzufetzen! Doch, liebe Natalja Sergecwna, meine so alltäglichen Binsenweis heiten, entwickelt von einem der .auostcrbenden Neste', klingen, in Worte geformt, zu schwach. Wenn man die geistigen, ewigen Werte verliert, dann erst lernt man sie schätzen! Wehe, daß diese Erkenntnis bei uns unter solchen Qualen geboren werden niuß, wehe, wenn diese unselige Herrschaft des Mißtrauens sich von hier aus über die ganze Erde verbreitet!" Er schüttelt energisch den Kopf: „Sehen Sie, meine Ahnungen, die ich damals bei Alekfei Michai- lowitfch ausfprach, daß aus nur noch einmal im Gefängnis ein Philosoph werde, haben sich erfüllt!" „Alexander Grigoriewitfch! Ich habe oft solche Angst! Angst, daß man mich doch noch in die G.P.U. ruft! Och rede mir ein, ich habe durch all die Erlebnisse meine wichtigste Kraft, die Selbstbeherrschung, verloren. Nichts bedrückt mich so stark wie dieses erniedrigende Gefühl des Bewachtseins! Wir wissen nun alle, wie unendlich viel ein Mensch ertragen kann. Das haben wir ja erlebt! Sogar anhaltender Hunger verwandelt sich zuletzt in eine Art Halbschlummer. Unterernährung, Kälte, Schmutz, alles haben wir ständig. Doch das Gefühl des Zufchauenden, dieses kalten, überlegenden, berechnenden, unsichtbaren Zerstörers, des Gespenstes der G.P.U. — ich fürchte, ich werde irrsinnig! Gut, daß ich es wenigstens Ihnen ohne Angst sagen kann! Der Zwang und das Schweigen zer fressen mich innerlich!" „Wir haben eine schwache Hoffnung auf Besserung!" spricht Alexander Grigoriewitsch, und ich merke, daß er sich unbewußt unschaut. „Welche denn!?" — „Wir sind in der letzten Zeit, in all den letzten Jahren so sehr unserer uivci.uusm-vciri.na 6.^.v.u. - vciruu uuo mens Börsenblatt f. d. Deutschen Buchhandel. 102. Jahrgang.