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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 08.03.1871
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- Erscheinungsdatum
- 08.03.1871
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- Deutsch
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HL 55, 8. März. Nichtamtlicher Theil. 643 sich trägt, den ihr die puritanische Revolution aufgedrückt hat. Der Kampf gegen die drückenden Privilegien der mit Intoleranz, Aristo kratie, Klassenherrschaft auf das innigste verwachsenen, den demokra tischen Ideen, der Gerechtigkeit für Alle, der wissenschaftlichen For schung, der Volksbildung durch und durch feindseligen Staatskirche ist ein politischer Rcformkampf, der zum Theil mit theologischen Waffen ausgekämpft werden muß. Es kann daher nicht Wunder nehmen, daß die theologische Streitschriften-Literatur beträchtlich angewachsen ist, seitdem die Reformpartei ihren großen Sieg durch Abschaffung der irischen Staatskirche errungen und Anstalten macht, die Folgen des Sieges auf englischem Boden zu ziehen. Dem theo logischen Verlag der Zahl nach am nächsten stehen die Jugend schriften mit 695; die nächste Kategorie, welche „Erziehung, Phi lologie und tl>6 Olassios" klumsig zusammenfaßt, enthält 568 Num mern. Die Romanliteratur figurirt nur mit 381 neuen Werken, immerhin übergenug, aber doch in keinem Verhältniß zur Konsum tion , die zum größten Theil durch die zahlreichen in unglaublichen Auflagen verbreiteten wöchentlichen Pennyblätter und die vornehmen Magazine befriedigt wird. Jurisprudenz — 123; Kunst und Wissenschaft (unter sviones begreift man hier nur die eracten Wissenschaften) — 346, was eine numerische Steigerung der natur wissenschaftlichen Literatur gegen 1869 bedeutet; Reisen und geographische Forschung — 338; Geschichte und Bio- graphie — 396; Poesie und Drama, was nach Ansicht der Verleger von Paternoster - Row verschiedene Dinge sind — 366; Jahrbücher und gebundene Zeitschriften — 388; Me tz i ein und Chirurgie, ein Zweig der Literatur, der sich anffallen- derweisc in dem für wissenschaftliche Heilkunde zu praktischen England nicht bezahlt und meistens auf Kosten der Verfasser, oft zum Zweck des Ankündigungspuffs gedruckt wird — 193. Der Rest wird unter die Ucbcrschriften „Volles lsttres — Essays — Monographien — Vermischtes" gebracht. In quantitativer Hinsicht war also die literarische Production in England blühend genug. Noch dazu bezeichnet die Zahl der er schienenen Bücher keineswegs ihre ganze Ausdehnung. In unserer Zeit der ruhelosen Bewegung, der Telegraphen und Eisenbahnen, des erbitterten „Kampfes um die Existenz", der gespenstigen Jagd nach Neuem und Neuem, nach Besitz, Vergnügen und Sensation«« aller Art, wo der Mensch viel und schnell genießt und beobachtet, viel und schnell vergißt, und mehr und mehr die Zeit, die Ruhe und die Lust zum zusammenhängenden Studium und angestrengten Den ken verliert — sind es nicht die Bücher, sondern die Zeit schriften und Revuen, durch welche er sich mit der täglich zu riesigeren Verhältnissen anwachsenden Literatur abzufinden Pflegt. Der Durchschnittsleser sucht sich durch Revuen, Essays, Feuilletons mit der Bewegung der zeitgenössischen Literatur in oberflächlicher Ver bindung zu erhalten. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen For schung, der empirischen Beobachtung, die Fortschritte und Erwerbun gen auf dem Gebiete der Politik, der Kunst, der Gesellschaft müssen ihm in kurzen, pikanten, überstchtlichenJournal-Artikeln bequem und angenehm gemacht werden, wenn er sich überhaupt damit befassen soll. Dieser verwässernde, active und passive Dampfbetrieb der Literatur ist namentlich in England, wo tims is mono;-, so sehr an der Tagesordnung, daß die alles überwuchernde Journal-Industrie dem ernsten Schaffen und Studiren, den „großen Büchern" und ihren Lesern den Raum versperrt. So befinden sich denn unter den 5000 Büchern, mit denen das Jahr 1870 die englische Literatur bereichert hat, nur wenige, welche der Zukunft erhalten zu werden und einen Platz in der Weltliteratur einzunehmen verdienen. Die bedeutendsten Werke gehören der Wissenschaft, die unbedeutendsten der Poesie an. Aber auch aus wissenschaftlichem Gebiete fehlt es an „stanäarä-rvorVs". Burton hat seine bändereiche „Geschichte Schottlands" vollendet, aber die dem Werke zu Grunde liegenden Quellenstudien in eine so enge Zwangsjacke von schottischem Particularismus und von unkritischem Kirchthurmpatriotismus gesteckt, daß das fleißige und inhaltschwere Werk eigentlich nur für begeisterte Nationalschotten genießbar ist. Eine allgemeinere Bedeutung kann schon Froude mit seinem Ge schichtswerk beanspruchen, das ebenfalls im vergangenen Jahr um einen Band, welcher in der Vorrede als der letzte bezeichnet wird, bereichert worden ist. Der Titel „üistorz- ok Lnglanä" paßt also eigentlich nicht, denn es ist nur eine Geschichte der Tudors. Froude gehört bekanntlich zur Carlyle'schen Schule. Seine Begeisterung für starke persönliche Regierung, sein Widerwille gegen alles, was wie Schönrednerei und heuchlerische Sentimentalität aussieht, selbst sein glänzender, die ausgetretenen Bahnen des Herkommens über schreitender Styl sindCarlylisch; aber er ist ein zu geistreicher, selbst- denkender und selbstforschcnder Mann, um vulgärer Nachbeter zu sein. Seine Verherrlichung Heinrich's VIII., eines der herzlosesten, selbstsüchtigsten, brutalsten und nichtswürdigsten Monarchen, die je auf dem englischen Königsthrone gesessen, war schon eine Nebertrei- bung der Iioro-vorsbip, deren sich Carlyle allerdings nicht schuldig gemacht haben würde; aber abgesehen von der krankhaften Modewuth Tyrannen weiß zu waschen, vermag sein Werk als ein glanzendes Monument der englischen Geschichtschreibung einen ehrenvollen Platz neben Gibbon, Macaulay, Carlyle, Merivale und Grote zu behaup ten. Ein gleiches läßt sich kaum von dem Grafen Stanhope sagen, der auch seine Geschichte durch den im vergangenen Jahre veröffent lichten Band „LsiAn ok Hussn ^nns" vollendet oder vielmehr vervollständigt hat. Lord Stanhope will sein das Haus Hannover umfassendes Werk geradezu als eine Fortsetzung der Macaulay'scheu Geschichte angesehen haben. Um das Ende des Macaulay'schen Werkes mit dem Anfang des seinigen zu verbinden, hat er die noch vorhandene Lücke durch den erwähnten Band auszufüllen versucht. Interessant ist der Fleiß, womit er dem historischen Stoff nachspürt» und die verhältnißmäßige Gewissenhaftigkeit, womit er den gefunde nen Stoff in seinen Tory-Gesichtskreis einzuzwängen sucht. Als Tory ist er mindestens ebenso unparteiisch wie Macaulay als Whig, was bekanntlich nicht viel sagen will. Beide sind Parteigeschicht schreiber. Damit hört aber auch ihre Aehnlichkeit auf. Macaulay läßt seine Whig-Ideen in schönen plastischen Gestalten aus der Ge schichte treten, und fesselt seine Leser durch die Gewalt seiner Dar stellung auch da, wo er sie nicht überzeugt. Lord Stanhope dagegen ist ein so trockener, ängstlicher, nicht beherrschender, sondern beherrsch ter Kämpe der Tory-Ideen, daß er bei aller Gewissenhaftigkeit, und trotz der offenbaren Solidität seines Wissens, Niemanden dafür zu begeistern vermag. Die Periode der Regierung der Königin Anna, einer der interessantesten Abschnitte der englischen Geschichte, hat ihren Historiographen noch nicht gefunden. Um die sittliche Verwor fenheit von Männern wie Bolingbroke und Marlborough mit ihrer staatsmännischen und militärischen Größe zu vereinigen, um die publicistischen Leistungen eines Addison und eines Steele, die Bedeutung eines Pope zu würdigen, dazu gehörte eben ein vor- urtheilsfreierer Geist und eine genialere Weltanschauung, als dem Grafen Stanhope zu Gebote steht. Zu seinem Ruhm wollen wir anerkennen, daß er, der unter Lord Derby und Herrn Dis- raeli Minister gewesen und aller menschlichen Voraussicht nach wieder Minister werden wird, der als reicher und gesinnungstüch tiger Landedelmann für Jagd, Wettrennen und philanthropische Festlichkeiten standesgemäße Begeisterung fühlen und nebenbei in den Parteigeschäften eine hervorragende Rolle spielen muß, noch Zeit und Lust zu ernsten Studien übrig behält. Seinem schwer fälligen Style nach zu urtheilen, muß ihm, ganz abgesehen von dem Studiren, schon das bloße Schreiben nicht geringe Mühe verur sachen. Unsere deutschen Tories geben sich gewöhnlich weder mit dem einen noch mit dem andern ab. 103*
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