144, 23. Juni 1934. Fertige Bücher. Börsenblatt f. d. Dtschn Buchhandel. 2705 D. H. Sarnctzkt schreibt in der Kölnischen Zeitung über ^Hedes neue Buch von Giono weckt neue und große Erwartung; der Dichter, dessen Name noch vor einigen Jahren in Deutschland so gut wie unbekannt war, hat rasch eine Lesergemcinde gewonnen, und es ist bemerkenswert, daß man ihn, den Südfranzoscn aus der Gegend zwischen der Rhone und der Durance, nahe der italienischen Grenze, als völlig abweichend vom typischen französischen Schrifttum empfindet. Er verkörpert eine so elementare dichterische Kraft, daß man ihn aus einer seiner landschaftlichen Besonderheit und aus dem Reichtum seiner zwar gewollt stofflich begrenzten, aber dennoch unerschöpflichen Einfälle und Gesichte neben Knut Hamsun stellen kann, getrennt durch persönliche Eigen art, verbunden durch den Urgrund seiner dichterischen Welt. Der Berg der Stummen (S. Fischer Bücherei) Leinen i.so RM an Umfang ein verhältnismäßig kleiner Roman, ist die seltsame Geschichte einer romantischen Liebe, wie sie nur aus der volklichen Eigenart der Heimat des Dichters begreiflich wird. DerMann, der die heimlich Geliebte mit Hilfe eines ge mütvoll-menschenfreundlichen Landstreichers, aus Schande und aus seelischer und leiblicher Bedrängnis errettet, stammt aus Baumugnes vom Berg der Stummen, eines Menschenschlags, dem die Gabe wortreicher Sprache verwehrt ist. Das hängt mit einer überlieferten Legende zusammen, nach der die Gründer des Dorfes um ihres Glaubens willen ver folgte Bauern gewesen sind, die sich, da ihnen die Zungenspitzen abgcschnitten worden waren, durch die Weisen einer Art Mundharmonika verständigten. So hatte sich dann dieses Geschlecht geformt: was in der Seele nach außen drängte, fand Ausdruck nicht mehr im erklärenden Wort, sondern in der erlösenden Musik. Es ist ein Buch von bezwingender Schön heit, farbensatt in allen Einzelheiten des Lebens der bäuerlichen Menschen und vor allem der Natur, und die Schilderung des gewaltigen Gcwittersturms und des verheerenden Hochwassers der Durance ist ein Meisterstück von genialer Größe. ist wohl als eine Art Selbstbiographie aufzusaffen. Alle die Elemente, die die erzählende Dichtung Gionos aus machen, leben hier in ihrem Ursprung, sind hier sozusagen in ihrer Ungeheuern Vielfalt gebündelt; man wird selten einer Lebensbeschreibung begegnen, die so sehr wie diese vom Untergründigen, ja vom Dämonischen her gespeist ist. Die häus liche Gemeinschaft um den Vater, als Schuster eine Jakob Böhme-Gestalt in ihrer nachdenklichen Einsicht und ein stiller edler Helfer in allen Nöten trotz seiner Armut, und um die Mutter, eine steißige Büglerin, ist zwar der Mittel punkt, aus dem das Leben Jeans des Träumers hervorwächst, aber diese Gemeinschaft weitet sich durch die Beziehung zur Umwelt: es entsteht ein vielgestaltiger Zug von Menschen, phantastisch in der Eigenart ihres Wesens, überschäumend in ihren Leidenschaften, leidend in ihrer Unzulänglichkeit: ein lebensvoller Zug von Hirten, Bauern, Musikanten, Hand werkern, von Nonnen, zu denen Jean in die Schule geht. Damit ersteht auch in plastischer Anschauung das kleine Städtchen und die umgebende Landschaft mit Weinhügeln, Olivenbäumen, Weiden und kahlen Bcrghängen, durch strömt von sinnlicher Kraft, überflutet von den bescheidenen Ereignissen des Tages, alles ist Nahrung für das junge, empfängliche, noch in Ungewißheit schwankende Gemüt des Knaben. Mit dem fast unglaublichen Reichtum der dichterischen Gleichnisse dieses einen Buches konnten andere Dichter den Bildbedarf eines ganzen Lebenswerkes bestreiten. (D. H. Sarnetzki) I-I 8. fflSLNLR LLKI,!!»