5886 Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. Fertige Bücher. ^ 121, 26. Mai 1908. Ein literarischer Prozeß erregt zurzeit in Berlin ungeheures Aufsehen und veranlaßte im „Berliner Tageblatt", in der B. Z. am Mittag, im „Börsen-Courier", „Welt am Montag", „Neue Freie Presse", „Kölnische Zeitung" und in zahlreichen anderen erstklassigen Zeitungen Berlins, Wiens und der Provinz lange Artikel, ja sogar Leitartikel unter der Überschrift: „Der Schutzmann auf dem Pegasus", „Die Literatur unter Polizeiaufsicht", „Polizei und Gericht", „Ein literarischer Prozeß", „Um das verlorene Lied" usw. usw. Es handelt sich um den früher in unserem Verlage erschienenen, seitens der Polizei mit Beschlag belegten Einakter - Cyklus „Das verlorene Lied" von Kurt Münzer. Gegen den Verfasser dieses Buches hatte der Staatsanwalt sechs Monate Gefängnis, drei Jahre Ehrverlust und Stellung unter Polizeiaufsicht beantragt. Der Gerichtshof erkannte auf 100 Mark Geldstrafe, obwohl der Autor wegen angeblich gleichen Vergehens gegen Z 184 vorbestraft war. Gegen den Verleger, den Drucker und den Zeichner wurden je 500 Mark Geldstrafe beantragt. Diese Angeklagten wurden jedoch sämtlich freigesprochen. Von den seitens der Staatsanwaltschaft als unzüchtig bezeichnten vier Einaktern wurden drei nicht als unzüchtig angesehen, nur in einem derselben sollen zwei kleine Stellen entfernt oder gemildert werden. Der vierte, oder vielmehr der im Buch an erster Stelle stehende Einakter ist in der vor liegenden Fassung beanstandet worden und soll bei Neuherausgabe des Buches nicht in dieser Fassung abgedruckt werden. Das Buch in der inkriminierten Fassung ist von uns nicht mehr zu beziehen, da dasselbe bereits im vorigen Jahre in den Verlag von Fritz Sachs, Budapest, übergegangen ist; dahingegen erscheint in Kürze eine Neuausgabe in der staatlich konzessionierten Fassung, und werden wir die Exem plare mit einem auffallenden Streifen versehen, welcher die Worte Konfisziert! Und freigegeben! tragen wird. Wir bitten um tätige Verwendung für dieses Buch, das, wie Sie aus den Urteilen von Ludwig Fulda, Ernst von Wildenbruch und August Strindberg ersehen werden, der Verwendung wohl wert ist. Das Interesse des Publikums an diesem Werke ist durch den eigenartigen Prozeß wachgerufen, es wird also ein leichtes sein, großen Absatz des Buches zu erzielen. Ludwig Fulda schreibt an den Autor: „Mit Interesse habe ich Ihr inkriminiertes Buch gelesen und kann nach dem Eindruck der Lektüre nur versichern, daß ich die gegen Sie gerichtete Anklage für durchaus ungerechtfertigt halte. In dem zweiten, dritten und vierten Einakter sehe ich Proben eines starken Talents und den redlichen Versuch, Lebendiges künstlerisch wahr zu gestalten. Wie man in diesen drei Stücken etwas im Sinn des Gesetzes Unzüchtiges finden will, ist mir unverständlich. Man müßte denn die ungeheuerliche Maxime auf stellen, daß sexuelle und erotische Dinge in der Dichtung nicht einmal gestreift werden dürften, selbst dann nicht, wenn das Problem im Ganzen, oder die Charakteristik im Einzelnen es erfordern. Verlag „Harmonie", Berlin.