4064 H7, 22, Mai IS30. Fertige Bücher. Börsenblatt f. d.Dtschn.Buchhandel. „Vravo, selilieLtl Lrnil I^ud^vi^ seine Kritik üirerUVie^lers neue „Oeseliielite der deutsetien Literatur". Lr selirei^t: VLI^^O ^ uf allen Gebieten bricht eine neue Form der Geschichtsschreibung sich Bahn, und ich bin froh über jeden neuen Angriff, denn, so heißt es bei Goethe von dem Hund, der den Reiter begleitet: „und seines Bellens lauter Schall beweist nur, daß wir reiten." Einer, der allemal mitattackiert wirb, wenn wir Dilettanten und Belletristen von den Legitimen gezaust werden, ist Paul Wiegler, und er ist gleich einer von den Besten; denn er ist al« Dichter zur Darstellung von Dichtern gekommen, und so gehört sich's auch. Er bringt jetzt dm ersten Band einer „Geschichte der deutschen Literatur" heraus, „Von der Gotik bis zu Goethes Tod" (im Verlag Ullstein). Ein solches Werk von 7<x> Seiten zeigt durch seine Einteilung sogleich an, ob und inwieweit es schöpferisch ist. Wer Wieglers frühere Arbeiten zur Literaturgeschichte kennt, mußte den dichterischen Erundcharakter voraussehen, bevor er den Band aufschlug. Auch jetzt, berufen, ihn anzuzeigen, prätendiere ich keineswegs, ihn ganz gelesen zu haben; dergleichen erkennt man in seinem Wert, indem man das Bild des Autors, das Inhaltsverzeichnis und eine Stich probe zusammenstellt. Ich wählte „Goethe", von dem allein über ic>o Seiten handeln, und bei dem ich ausnahmsweise die Materie kenne. Welche Frische, ein solches Untemehmen zu beginnen! (Denn izg Seiten über Goethe sind weit schwieriger zu schreiben als drei Bände.) Mit einer sublimen Charak teristik setzt der Autor ein, die alles voraussetzt, was später in gediegener Erzählung folgen wirb, aber diese Charakterzeichnung enthält, einer Ouvertüre ähnlich, schon alle Hauptmotive, die dann entwickelt werden; und wie bei einer Ouvertüre ahnt man zunächst mehr, als man begreift, und spielt sie sich nach Schluß der Oper nochmals vor. Hier ist alles auf neue Art erfaßt und bargestellt, und man hat seine Privatfreude, wmn man die Gestalt jetzt auf eine Art geschaut findet, die vor einem Jahrzehnt, als wir schrieben, noch überraschte und bestritten wurde. Hier sind Frau von Stein und Schiller keine Höhepunkte mehr, und liest man die Auswahl der bedeutendsten Gedichte, so fehlm nahezu alle, die unsere Väter entzückten. Dafür sind die großen Akzmte auf die Naturforschung, auf den „Diwan", auf den „Faust"-Schluß, vor allem aber auf das Leben selbst gelegt, und Briefe und Gespräche sind zu Hauptquellen geworden, wie sich's gehört. Alle« ist bildhaft in diesem Buche und wird nicht zufällig illustrativ durch seltene Bilder unterstützt; die Langweile der Literaturgeschichte, die man uns als Studenten vorsetzte, ist von einer neuen, zarten, schwankenden Problemstellung verscheucht. Der Leser wird beständig Mitarbeiter, wird auch zum Widerspruch aufgefordert, und sicher werden sich an den Rändern viele Fragezeichen einfinden, wie sie der apodiktische Zensor früherer Zeiten niemand herauslockte. Und doch tritt der Autor niemals mit aufgeblähten Schulworten hervor, von mythischer Schau wird hier nicht gesprochen; sie ist nur da, ohne sich auf die Art gewisser zärtlicher Jünglinge auf dem Diwan des NarciffuS selbstgefällig auszustrecken. Alles ist einfach in der Anlage dieses Buches und raffiniert in der inneren Bettachtung; ein großartiger Fleiß wird hier versteckt, anstatt profefforal herausgekehrt zu werden; dagegen wird die Anekdote überall herausgekehrt, vor der sich die Legitimen wie vor einer unmöglichen Frau verstecken. Jeder Schüler versteht es, und doch wird es auch dem Kenner Abschnitte darreichen, in denen durch eine persönliche, hingebende Be trachtung diese deutschen Menschen und Werke in ein warmes Licht gehoben werden. Bravo, Wiegler!