Nr. 60 (R. 35). Leipzig, Dienstag den 12. März 1929, 98. Jahrgang. TedMLomIIer Teil Warum Tag des Buches? Von vr, Kül z, Rcichsminister a. D. »Es ist jetzt platterdings unmöglich, mit irgendeiner Schrift, sie mag noch so gut oder noch so schlecht sein, in Deutschland ein allgemeines Glück zu machen. Das Publikum hat nicht mehr die Einheit des Kindcrgeschmackes und noch weniger die Einheit einer vollendeten Bildung. Es ist in der Mitte zwischen beiden, und das ist für schlechte Autoren eine herrliche Zeit, aber für solche, die nicht bloß Geld verdienen wollen, desto schlechter.- Im Jahre 179ö schrieb Schiller diese Worte an Goethe. Mit geringfügigen Wandlungen könnten sie heute geschrieben sein. Und wie eine Fortsetzung und Ergänzung dieser herben Kritik klingt es, wenn Annette von Droste-Hülshoff im Jahre 1839 an Professor Schlüter schreibt: »Ein Schriftsteller ums liebe Brot ist nicht nur Sklave der öffentlichen Meinung, sondern sogar der Mode, die ihn nach Belieben reich macht oder verhungern läßt, und wer nicht gelegentlich sein Bestes und am tiefsten Gefühltes, Überzeugung, Erkenntnis, Geschmack verleugnen kann, der mag nur sich hinlegen und sterben, und der Lorbeer über seinem Grabe wird ihn nicht wieder lebendig machen.- In der deutschen Kuliurwelt der Gegenwart und Zukunft haben Geringschätzung und Verkennung des Schaffens und Wir kens unserer Schriftsteller keinen Raum. Im Gegenteil: ihnen gebührt ein Ehrenplatz im geistigen Leben unseres Volkes und eine Heimstätte überall dort, wo das innerste Wesen des Deutschen wurzelt: in Familie und Haus, in den Stätten der Bildung und Erziehung, der seelischen Erholung und Erhebung, der Wissen schaft und Forschung. Dieses große Kulturziel muß dem deutschen Volke gezeigt werden, heute und immer wieder — darum »Der Tag des Buches!- Auch dort, wo der Materialismus der Zeit dem Denken und Handeln der Menschen noch nicht alleiniger Diktator ist, leidet bei uns die ursprüngliche Freude an den Kulturgütern. So ist auch die Freude am Besitz eines guten Buches vielfach verloren gegangen, und wenn nicht Hunderte von Volksbildungseinrich tungen sich in zäher und uneigennütziger Arbeit mühten, würde ein gutes Buch zu vielen Schichten unseres Volkes überhaupt nicht mehr Vordringen. Aber »so weit ist es noch nicht mit der Kultur der Deutschen gekommen, daß sich das, was den Besten ge fällt, in Jedermanns Händen findet.- Auch diese Klage Schillers aus dem Jahre 1794 muß für unsere Zeit zuschanden werden. Der Weg zum Verstand und dem Herzen des deutschen Volkes muß für das gute Buch wieder frei gemacht werden — darum »Der Tag des Buches!« »Wir wissen es alle und wollen es uns nicht verhüllen, daß die Eintagsschreibcrci mit der zeitgemäßen Aufregung, mit immer toller, immer aufpeitschendcr ausgedachten Stoffen und immer bedenkenloserer Raschheit unerzogenen Schreibens in so er stickender Menge heute auf das Volk fällt, daß für die Dichtung keine Atem- und Lebenslust bleibt. Geschickte und begabte Macher haben dies Eintagsschreiben längst im Schrifttum und breit auf der Bühne dieser Zeit heimisch gemacht. Aus dem Ge- duldctsein ist schon überwicgen und Vorherrschen geworden.» Wer dürste cs wagen, diese Worte von Wilhelm von Scholz über die Not des guten Schrifttums für unberechtigt zu halten!? Film und Rundfunk setzen in raschem, sich fast überstürzendem Wechsel bunte, oft grelle Bilder vor das körperliche und geistige Auge. Gewiß sind auch sic Mittler der deutschen Kultur, aber genau so verkehrt cs sein würde, den Film nach Art eines Buches darbieten zu wollen, genau so verkehrt ist es, sich einer Verfilmung des Ge schmackes gegenüber dem Buch hinzugcbcn. Nicht blitzartig darf das gute Buch in den Jdeenkreis des Volkes eintreten und wieder verschwinden, sondern es muß als wertvoller Besitz festgehalten werden und als Quelle geistigen und künstlerischen Genusses dauernd spenden. Das Buch ist Wegweiser und Spiegelbild der deutschen Kul tur. Um dem deutschen Volke vor Augen zu führen, welch' un ersetzlicher Wertfaktor das Buch für Wissenschaft und Kunst, für Volkserziehung und Volksleben bleiben muß — darum »Der Tag des Buches!» 277