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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 02.06.1934
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- 1934-06-02
- Erscheinungsdatum
- 02.06.1934
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- Deutsch
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x° 126, 2. Juni 1934. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn Buchhandel. terisch erleben und sehen konnten. Es gibt kein Kind, das nicht die Märchen der Brüder Grimm als Wirklichkeit genommen und das nicht auch seinen Alltag als hohes Wunder gesehen hätte. Hier müßte man anknüpsen, von hier aus eine Brücke zu bauen suchen. Dazu wäre allerdings erforderlich, daß man die Entwicklung vom Kinde zum reisen Menschen als organischen Werdcprozeß ablausen ließe, wie das vor langen Zeiten selbstver ständlich war und den Mythus lebendig hielt. Die schönsten Phrasen über Kultur helfen nichts, wo nicht Kul tur aus dem »Ur« aufsteigen kann. Man muß schon zum Boden, zum unverdorbenen Acker zurück, damit das Wort wieder rein und naturstark wachsen kann. Gewiß ist die Weltverbesserung eine praktische Angelegenheit, d. h. etwas, was Verwirklichung sucht und nicht nur auf dem Papier stehen soll. Aber die Verwirklichung im Sachlichen ist nur möglich aus Grund der verwandelnden Wcltanschauungskraft. Die verbesserte Welt muß als Vision geschaut werden, und wer weiß, daß das Dichterwort etwas Konkretes ist, der sieht in der besten Dichtung selbst schon eine Wirklichkeit, nicht aber eine phantastische Unterhaltung, ein amüsantes Abenteuer des Geistes. Wie könnten auch Dichter (und zumal unsere Klassiker) geistige Führer sein, wenn sie sich in den Bereichen aufhalten wollten, die jedermann nur zu gut bekannt sind!? Gewiß ist nicht gesagt, daß das Befremdliche immer schon gut ist, aber ein Werk, das überhaupt nicht befremdet, könnte ja nichts Uberalltägliches enthalten. Jedoch ist die Befremdlichkcit weder Selbstzweck noch beabsichtigt, muß sich vielmehr im Ablaufe des Werkes auflösen und so wirken, daß der Empfangende sagt: Das bin ich! Hier werden meine Angelegen heiten verhandelt. Zwar bin ich's nicht so, wie ich bin, aber so, wie ich werden will. Dann erst wäre das ungewollte, aber der Kunst von Natur innewohnende ethische Ziel erreicht. Dann wäre das Wort des Dichters in der Seele des Lesers oder Hörers Wirklichkeit geworden. Dieser würde die Vision der Zukunft in sich selbst Gestalt gewinnen fühlen und würde die Gegenwart im Lichte künftiger Vision sehen. So brächte der Dichter den Sonntag in den Alltag und den Alltag in den Sonntag. Damit schlösse sich auch erst d i e Klust zwischen dem Dichter als einem sonderbaren, fast außerhalb der Gemein schaft hausenden Unbchaustcn und dem Volk als einer ihn zwar duldenden aber im tiefsten nicht ernst nehmenden Phalanx der Nichtdichter. Das ist des Dichters schönster Traum, Mensch unter Menschen zu sein. Er zielt nicht aus Ruhm, der ihn in eisiger innerer Ein samkeit mit hohlen Posaunen umdröhnt, sondern aus Wirkung. Ohne Zweifel wünscht er sich die ganze Umwelt »poetisch«, und hier hat dann das Wort poetisch seinen Ursinn von »machen«. Das aber heißt schassen und schöpferisch sein. Das Reich der schöpfe rischen Menschen ist des Dichters Sehnsucht, in dem die hohen Gesichte Wirklichkeit sind und die Wirklichkeit ein erhabenes Antlitz hat, weil der Mensch sie erhaben sieht. Hans Heyck: Welches Buch bedeutet mir am meisten? Diese Frage läßt sich stellen: aber ob jemals ein Biicherleser sie eindeutig beantworten wird, — das möchte ich bezweifeln. Vielleicht gibt es neigungsstarke Menschen, die ohne das geringste Zögern er klären: dieses oder jenes Buch bedeutet mir am meisten von allen Büchern auf der Welt! — Gut. Aber ob sie damit die innere, die llberpersönliche Wahrheit sagen? Der Theologe wird erwarten, daß ich auf die Titelsrage ant worte: die Bibel. Ter Humanist will hören, daß ich mich auf Homer oder Platon festlege. Mein alter Gymnasialdirektor zweifelt nicht daran, daß ich mich für Goethes »Faust« entscheide. Und so weiter, bis hinunter zu Mann, dessen Romane vor einiger Zeit auch zu den Standardwerken gezählt wurden und von den beflissenen Propheten ihre Plätze sogar neben Werken der Weltliteratur angewiesen er hielten. Doch ich habe mir vorgenommen, die Titelfrage zu beantworten. Das erfordert freilich eine Aufzählung, und diese muß lückenhaft aus- fallen: sonst käme ich nicht durch. Als ich zehn Jahr alt war, bedeuteten mir die Jugendbücher »Kaiser Rotbart« (von Ohorn), »Der Löwe von Flandern« und »Kuny der Negerfürst« (von Steurich) das Höchste: sie ergriffen mich auf eine unirdische Art. Mit zwölf Jahren las ich nur Jules Verne, mit vierzehn geriet ich in den Bann der Gedichte von Freiligrath, neben denen alles andere verblaßte, und mit siebzehn Jahren gab es für ich auf Jahre hinaus der Gedankenwelt von Chamberlains »Grund lagen des 19. Jahrhunderts«, doch schon drängten sich Schopenhauer und Nietzsche in diese Gedankenwelt mit hinein, und als dann der Krieg die große Zäsur durch unser aller Leben riß, da entsinne ich mich, im Unterstand an der Aisne drei Wochen lang, soweit der Batteriedienst mir Zeit dazu ließ, ausschließlich im Jdeenraum von Schillers »Wallenstein« gelebt zu haben; ich las das große Drama mit meinem Leutnant zusammen: wir lernten es seitenlang aus wendig und fanden über seine Brücke den Weg ins Unbedingte, den der Krieg von uns forderte, daß wir ihn beschritten. Und so ist es dann weitergegangen. Nach dem Kriege zwangen mich für längere Zeit die Dichtungen von Waldemar Bonsels in ihren weitgeschwungenen Stimmungsbereich, und das dämonische Werk eines Otto Wirz forderte auch meiner Seele sein »Alles oder Nichts!« ab. Doch schon meldeten sich andere Geister mit dem Anspruch, mir »am meisten zu bedeuten«: der tiefgründige Däne I. Anker Larsen mit seinem »Stein der Weisen«, der unvergleichliche Knut Hamsun mit allem, was er je geschrieben, und der abgründig geniale Friedrich von Gagern mit den Schicksalsbildern seiner großen Grenzland romane. Bei diesen Männern stehe ich heute, in meinem zweiundvierzigsten Jahre. Wo werde ich mit sechzig Jahren stehen, wenn Gott mich so alt werden läßt? Jedenfalls immer noch bei Hamsun und Gagern; denn diese beiden, vom Fortschrittswahnsinn niemals auch nur leisest gestreiften Geister haben die Welt auf eine so unerhört »konservative« Weise (dies Wort im besten, überpolitischen Sinne verstanden!) zu gestalten vermocht, daß der Wandel der Jahrhunderte von ihrem Werk nur weniges wird abbröckeln können. Aber welche Geister wer den sich noch zu ihnen gesellen als Wegweiser für mein späteres Leben? Es brauchen keine neu auftauchenden, zeitgenössischen Geister zu sein, obgleich ich jede neue Schöpferkraft freudigst begrüße; es können uralte und doch ewig junge Geister sein, deren gedrucktes Teil seit Jahren unter meinen Büchern steht, ohne daß es mich bisher in seinen ausschließlichen Bannkreis gezogen hätte: Platon oder Aristo- phanes, die indischen Weistümer, Shakespeare, die deutschen Mystiker: das alles veraltet ja niemals; es wartet nur darauf, daß unsereiner in die Jahre komme und die erforderliche Weisheit ansammle, die zur vollen Würdigung jener Geistesgüter nun einmal unerläßlich ist. Natürlich ist die Aufzählung der vorstehenden Bücher von Dich tern und Denkern (der »Lieblingsautoren«, wie man im Backfisch alter sagte!) lediglich durch die Titelfrage angeregt worden und im übrigen sehr summarisch, lückenhaft und, abgesehen von ihrer notge- vrun<genen Subjektivität, auch sehr ungerecht gegen die nichtgenannten Werke und ihre Schöpfer, die von frühauf meinen Lebensweg begleitet haben: als blühende Hecken oder schimmernde Wiesen, als ernster dunkler Hochwald oder als rauschender Fluß, als himmelnaher Fels und Firn, als weite Winterlandschaft oder als trauliches, wärmendes Gasthaus am Wege, das den Wanderer zum behaglichen Verweilen einlud. Das alles ist ja selbstverständlich. Die seelischen Bande, die uns an manchen großen Geist der Antike fesseln, können wir ebensowenig abstreifen wie die Liebe zu gewissen Unvergänglichen aus alt- und mittelhochdeutschen Schöpfungshöhen und aus der Reihe derer, die die beiden vorigen Generationen unter dem Sammelbegriff der »Klassiker« in einen Sonderschrank zwängten. Könnte ich wirklich Wilhelm Naabe aus meinem Leben wegdenken, oder seinen Geistes und Vornamensvetter Wilhelm Busch? Oder den Lyriker aller Lyriker, den einzigartigen Detlev von Liliencron? Überhaupt die Niederdeutschen, die meiner Seele Heimat gestaltet haben? Vielleicht rechne ich ihre Werke nur darum nicht zu den Büchern, die »mir am meinem Unterbewußtsein, über meinem Leben geleuchtet haben, ohne plötzlich und eruptiv in es hineinzudrängen wie manches andere, ein gangs genannte Buch, das eines Tags dann den Platz seiner Vor herrschaft wieder räumen mußte. Und wie steht es mit gewissen Philosophen, Kunst- und Kultur kritikern, Staatsmännern und anderen, deren Werke uns bezaubert, ja manchmal auch verzaubert haben? Sollen wir sie wirklich aus der glühenden Kette unserer Bucherlebnisse herausfallen lassen, nur weil sie uns nicht zeitweilig das Höchste bedeutet haben? Wie steht es mit einem Werk wie Adolf Hitlers »Mein Kampf«, das heute zur Grund lage schlechthin für den Aufbau eines ganzen großen Reiches geworden ist? Man braucht dieses leidenschaftliche Bekenntnisbuch keineswegs über die Höchstleistungen menschlicher Seelendeutung und irdischen Dichtertums zu erheben, und doch fühlt jeder von uns, daß es sich 495
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