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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 16.04.1929
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- 1929-04-16
- Erscheinungsdatum
- 16.04.1929
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X- 87, 16. April 1S2S. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f.d.Dtschn. Buchhandel. zichung des Ohres angelegen sein zu lassen. Bon der Erziehung des Ohres z. B. durch den Vers hat das Radio bis heute nichts begriffen. Aber es wird es eines Tages begreifen, und dann wird plötzlich der Rhapsode wieder da sein müssen. Ob ein moderner Autor von sich aus das schon gesehen hat, weiß ich nicht. Aus der Literatur ist mir jedenfalls davon nichts bekannt. Und endlich das neue Körpergefühl, auftauchend in Sport und Spiel, in der Weekend-Bewegung, in der Nalurwanderung und in allen diesen Formen! Das neue Körpergefühl und seine Pflege absorbiert viel Spannkraft. Es schränkt auch, von sich aus gesehen, die Möglichkeit zu literarischer Bildung ein. Aber es tut auch etwas Positives für die Literatur: es bringt nämlich ganz neue Weltmaßstäbe hervor. Um es einmal an einem Bild llarzumachen: Wenn Sic draußen am Strand, um fächelt von Sonne und Wind, liegen, und Sie sollen eine sehr literarische, psychologische Zergliederung lesen oder eine sehr aus gebreitete Naturschilderung zu sich nehmen, so streiken Sie als moderner Leser. Sie wollen, wenn Sie sich da überhaupt an das Buch wenden — nun, sagen wir einmal: — die Gedrängtheit und Dichte der Menschlichkeit haben, wie sie in Wilhelm Meisters Lehrbrief steht. Das kann man vor der Natur ertragen. Sehr viel Literatur dagegen zerfällt vor der Natur. Und so bildet sich hier aus dem neuen Körpergcfühl auch ein neuer Leser, ein Leser, der auf das Wesentliche drängt. Dieser Bewegung wird die Literatur folgen müssen, und sie wird ihr folgen sogar zu ihrem Heil. Diese drei Bewegungen, in die der moderne Mensch hinein gestellt ist und denen er sich gar nicht entziehen kann, ob er will oder nicht, möchte ich bezeichnen als säkulare Geistesbewegungen, die nicht heute gekommen sind, nicht heute entstanden sind, und die nicht morgen enden werden, sondern die eine gewisse Konstanz hineinbringen werden, die aber selbstverständlich die gewohnte klassisch-romantische Tradition der literarischen Kultur entschei dend verändern werden und entscheidend werden verändern müssen. Neben diese säkularen Bewegungen treten nun zeitlich be grenzte, die sich aber auch immerhin aus Jahrzehnte erstrecken, und diese Bewegung ist eine Bewegung vom Individualismus hin zum Kollektivismus. Sie geht durch die ganze Zeit. Rathenau hat sehr schön beschrieben, wie wir heute alle zp einem großen Teil gruppengebunden sind — nicht nur im Sinne von Klassengebundenheiten, sondern von Beruf, als Väter, als Eltern usw., überall sind wir nicht mehr so sehr Individuen als Teil glieder von Gruppen und von Bewegungen, die in diesen Grup pen lebendig sind —, und daß die Täuschung, daß jeder ein so sehr besonderes Individuum sei, dem modernen Menschen mehr und mehr entschwindet. Ich führe ein gut Teil dessen, was hier bemängelt worden ist, z. B. an der Lostssllor-Bewegung, hierauf zurück. Man will gar nicht mehr das Buch wählen, sondern man ist durchaus zufrieden, daß einem gesagt wird: »In diesem Buch hast du den Extrakt der modernen Literatursituation; in diesem Buch — oder in diesen paar Büchern — tritt dir die Bewegung, die heute wichtig ist, in konzentriertester Form entgegen-. Auch hier der Drang zu vereinfachen, zu verwesentlichen, zu ratio nalisieren — das eigene Leben, wenn Sie so wollen —, und das alles zwangsläufig, weil gruppengebunden. Mit diesen Betrachtungen bin ich bei den Thesen über den modernen Leser, die ich den folgenden Rednern zur Diskussion geben möchte. Es sind int ganzen fünf: 1. Die Zeit und die Kraft des modernen Lesers für das Buch ist geringer geworden durch die Intensität und durch die exten sive Last des heutigen Arbeitslebens. Sie ist geringer geworden durch die Konkurrenz, in der die Augen-, Ohren- und Körper kultur heute mit der Buchkultur steht. 2. Der moderne Leser verläßt also mehr und mehr die lite rarische Bildungstradition, die wir noch in den Schulen weiter pflegen und die von der klassisch-romantischen Literaturepoche her in uns noch lebendig ist, die Ausdruck des Jahrhunderts des Individualismus war und die natürlich auch heute in vielen einzelnen noch nachlcbt. Der moderne Mensch als Leser erleidet diesen Umschlag aus individualistischer Bildungstradition in einen neuen Zustand. 418 3. Der moderne Leser ist — durch wirtschaftlichen und durch organisatorischen Zwang — auf der ganzen Linie seines Lebens und Wirkens gezwungen, sich kollektivistisch einzuordnen. Dieser scheinbar äußere Kollektivismus greift auch in die inneren Be zirke ein. Der moderne Leser ist nicht mehr Individualist, son dern Kollektivist — auch in seinem Verhältnis zu Buch und Bildung. 4. Der moderne Leser ist in seinem Verhältnis zum Geist skeptischer — viel skeptischer — als frühere Lesergenerationen. Der Prüfstein der Echtheit eines Buches, einer geistigen Leistung, ist ihm die Bewährung dieses Buches an den Härten der Wirk lichkeit und an der Größe der Natur. Geist, insofern er Kon struktion ist oder Spiel des Gedankens oder Arabeske des Lebens, sagt dem modernen Leser sehr wenig. Er verlangt Führung, Heranführung zum mindesten an die Probleme der Wirklichkeit. Er verlangt mehr noch: er verlangt Formung und Vorwegnahme zukünftiger Wirklichkeiten durch den Geist. Das ist der viclbe- rufenc, viclverspottete und doch so berechtigte Zug zur Tendenz, der heute allgemein beobachtet wird. Man kann beinahe ruhig sagen: jedes Buch von großer Wirkung baut auf auf einer Tendenz. Und letztens: In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß der moderne Leser sich wünscht, nur das Wesentlichste unserer Epoche im Buche zu finden, daß ihn die Privatschmerzen der Autoren gar nichts angehcn, daß ihn die Privatschmerzen kleiner Klüngel und Zirkel nicht interessieren, daß er neue Wertmaß stäbe gefunden hat aus einem sehr harten Lebenskampf und aus einer leidenschaftlichen Hinwendung zu natürlichen Dingen. Ge messen wird heute Literatur nicht mehr wie zum Teil noch in der literarischen Kritik und sonst im Bildungsleben — im organi schen Bildungslcben — an den traditionellen Maßstäben klassisch romantischer Herkunft, sondern an ganz neuen Dingen. Fragen Sie einmal einen jungen Menschen, was ihn wirklich in der Literatur angeht, und Sie werden erstaunt sein, was ihn alles nichts angeht. Die Weltmaßstäbe, die heute für die Beurteilung der Literatur erobert und erarbeitet werden, sind irgendwie zu- kunftsträchtig, und der moderne Leser hat den gesunden Instinkt eines Barbaren, alles das abzulehnev, was ihm nur Tradition und nur Bildungsgerede aufladen will. Gewiß, jener seine, überkultivierte Typ, von dem gestern Frau Professor Siemsen gesprochen hat, geht dabei langsam zugrunde. Aber ich glaube, alle schöpferisch kräftigen Zeiten — und ich glaube, daß wir in einer solchen Zeit leben — werfen Altes über Bord und zer stören Altes, und die Barbaren haben mit Recht die Tempel Roms zerbrochen und die Säulen benutzt zu den neuen Bauten einer kommenden Kultur. (Lebhafter Beifall.) II: vr. Frankenheim, Geschäftsführer der Bonner Buch handels-Gesellschaft m. b. H. in Bonn: Wenn der Buchhändler in seiner Eigenschaft als Sorti menter die Aufgabe übernehmen soll, etwas Verbindliches zur Frage des modernen Lesers zu sagen, dann ist er sich der Schranken seiner möglichen Leistung wohl bewußt. Denn eigent lich kann er nur über jene Lesertypen berichten, die ihm in seinem zufälligen Wirkungskreis begegnet sind. Ob aber jene Leser und Buchkäufer, die ihm begegnet sind, ohne weiteres als Mate rial einer Psychologie des modernen Lesers schlechthin angespro chen werden können, ist eine Frage, die nicht so ganz leicht zu entscheiden ist. So weiß jeder Buchkäufer aus allerpersönlichster Erfahrung, wie individuell verschieden die Sortimente sind, die er kennen gelernt hat. Es ist zweifellos durchaus berechtigt, vom individuellen Antlitz des Sortimentes zu sprechen. Diesen schlich ten Sachverhalt kann man auch so ausdrücken, daß man sagt, jedem Sortimenter ordnen sich eben auf Grund seiner spezi fischen Eigenart nur ganz bestimmte Lesertypen zu. Wer will nun als Sortimenter die Frage entscheiden, inwiefern nun ge rade die ihm persönlich anhangende Leserkundschaft am ehesten die Physiognomie der Zeit an sich trägt! Man sieht, die bloße zufällige Erfahrung des Sortimenters kann sich nur schlecht zum Sachwalter einer so schwierigen Prüfung aufwerfen, wie sie hier erwünscht wird. Freilich — so könnte man sagen, es wird doch
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