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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 22.04.1930
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1930-04-22
- Erscheinungsdatum
- 22.04.1930
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- Deutsch
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X- 82, 22. April 1930. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d.Dtschn.Buchhandel. heute noch Bücher?« liegt das Bedauern darüber, daß ein Teil der Jugend sich vom Buch abgekehrt hat. Diese Feststellung zwingt zu der Überlegung: Wer ist schuld daran, die Jugend oder das Buch? Ich will es mit der Beantwortung der Frage nicht so leicht nehmen wie alle die Leute, die bei jeder Gelegenheit über die Jugend von heute herfallen und ihre liebreichen Moralansprachcn regelmässig mit den Worten beginnen: »Das sollte ich mir nur erlaubt haben, da wäre ich bei meinem Vater oder bei meiner Mutter schön angekommen». Wir wollen es glauben, daß alle die Sprecher sich zu ihrer Jugendzeit anders benommen haben, als die Jugend von heute es tut. Ob sie mit ihrem Betragen damals den Beifall der Alten ihrer Zeit erwarben, mag dahin gestellt bleiben. Würde ich das Verhältnis der heutigen Jugend zum Buch so sehen, wie diese ewigen Tadler der Jugend alles beurteilen, was junge Menschen jetzt tun und treiben, dann zuckte ich die Achseln und sagte einfach: »Die Fugend Hat schuld. Sie hat keine Freude mehr am Buch, sie mag nicht mehr lesen, sie tummelt sich lieber auf Sport- und Spielplätzen und geht lieber ins Kino, als daß sie ein Buch liest.» Das ist eine be queme Sache, das Urteil so abzugeben, es ist nur eins daran auszusetzcn: Das Urteil ist vollkommen schief. Die Beobach tungen allerdings sind richtig: Unsere Jugend treibt Sport und geht ins Kino, sie liest dis Zeitung und baut Radioapparate. Aber es ist falsch, auf diese Dinge mit der Einstellung eines Menschen zu sehen, der vor vierzig Jahren jung war, es ist falsch, der heutigen Jugend es als einen Mangel vorzuhalten, wenn sie die Liebhahereien der Jugend einer entschwundenen Zeit heute nicht mehr teilt. Die Jugend von heute hat mehr erlebt als ganze Geschlechter vor ihr. Die Altesten, die um 1910 Geborenen, haben die Not der Kriegsjahre am eigenen Leibe gespürt. Und wenn auch die Liebe der Eltern ihnen nach Möglichkeit das Härteste, den nackten Hunger kennen zu lernen, ersparte, so haben sie doch eins ent behrt: Das fröhliche Unbekümmertsein der Jugend um des Leibes Nahrung und Notdurft, denn auch die Sechs- und Achtjährigen mußten vom Spiel fort dem Ruf der Mutier folgen und um Marmelade oder ein Viertelpfund Rindertalg stundenlang an stehen. Als Schulkinder erlebten sie das Hin- und Hergerissen- wcrden der Väter zwischen Front und Heimat, die Staatsum wälzung, Streik und Arbeitslosigkeit, und als ältere Schüler erhitzten sie sich in den Jugendgruppen der verschiedenfarbigen Verbände an der Politik, an Dingen, von denen ihre Väter, geschweige denn ihre Mütter, in demselben Alter noch keine Ahnung hatten. Und diese Jugend tritt unmittelbar von der Schule ins Leben. Das heißt heute nicht mehr, von den Eltern behütet und geleitet die ersten Schritte in die Selbständigkeit tun, das fordert heute von ihnen, daß sie sofort mit beiden Armen zupacken und vom ersten Augenblick an sich daran gewöhnen, auf eigenen Füßen zu stehen. Früher konnte man nach der Schulzeit noch sich Zeit lassen mit der Berufswahl, heute sind schon die letzten Jahre der Schulzeit erfüllt von der ewig quälen den Frage: »Was soll der Junge werden? Alles ist überfüllt!» Früher konnten wenigstens die Mädchen sich nach der Schulzeit des ruhigen Behagens im Hause unter mütterlicher Obhut er freuen, heute werden sie genau so eingespannt in das Erwerbs leben wie die Jungen. Ist es da ein Wunder, wenn diese Jugend in vielen Dingen nüchterner und sachlicher ist, als ihre Eltern es einst waren, wenn sie üicht mehr schwärmt, sondern kühl und überlegen die Chancen abwägt, die sie im Leben hat? Ist es ein Wunder, wenn diese Jugend, mit Autos, Flugzeugen, Film und dem Wunder des Rundfunks groß geworden, Dinge be lächelt, die noch den Eltern wert waren? Ist es ein Wunder, daß Schillers »Lied von der Glocke» der heutigen Jugend kein Interesse mehr abgewinnt, sondern eher einen gelinden Wut ausbruch erregt, daß man dies lange Gedicht auswendig lernen muß? Die Alten irren, wenn sie die Jugend von heute darum für schlechter halten. Junge Menschen klammern sich immer an di« Gegenwart. Das haben sie zu allen Zeiten getan, das tun sie auch heute. Darum sind ihnen die Zeichen der verschiedenen Automarken 372 bekannter als die Lieblingsbücher der Eltern, die Namen der Filmschauspieler, deren Gesichter in Riesengröße von buntfar bigen Plakaten herab ihnen zulächeln, vertrauter als die zarten Gestalten aus der, »Verzauberten Rose» oder aus »Immenses». Und wenn Eltern heute ihren Kindern Kino, Rundfunk, Zeitung und Sportplatz verbieten wollen mit der schönen Begründung: »Wir haben so etwas auch nicht gehabt und sind doch groß ge worden», wenn sie ihnen als Ersatz dafür zwar die Anregung geben: »Lies doch lieber ein gutes Buch«, auf die Gegenfrage der Jugend aber nur mit den Büchern aus ihrer Zeit aufwarten können, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn ihre Kinder sich mehr und mehr von ihrer Führung lösen und darauf ver^ zichten, die Eltern um Rat zu fragen. Aber die Jugend von heute irrt, wenn sie glaubt, mit Kino heldenkenntnis und Radiobastelei, mit einem Hundertmeterlauf in 12 oder ll Sekunden und einem Schlagballweitwurf von 60 Meter einmal das Leben zu meistern. Me Welt ist weiter als der Sportplatz, das Leben stellt mich vor andere Aufgaben als nur die, Harry Liedtkes Lächeln bezaubernd oder das Spiel Pola Negris fabelhaft zu finden. Es ist sehr nett, wenn ich mit meinem selbstgebauten Apparat den Gleiwitzer oder Langenbergcr Sender einsangen kann. Ich glaube aber kaum, daß mir diese Fähigkeit von meinem Chef eine Gehaltszulage einträgt. Ich will und kann die Zeitung nicht entbehren i ich will wissen, wann die -Europa« ihre erste Reise über den Ozean beendet hat, wie der Jakubowski-Prozeß ausgeht und was morgen drei Einsender im General-Anzeiger über die Lage des Stadttheaters zu sagen haben, ich muß einmal einen Boxkampf besuchen, ich muß einmal unter den lärmenden und fieberhaft erregten Zuschauern bei dem Entscheidungskampf um die Meisterschaft im Fußball gestanden haben. Aber das alles, und wenn ich hundert und tausend andere ebenso interessante und für die Gegenwart bezeichnende Dinge noch aufzählte, das alles sind doch nur bunte Steinchen, winzige Splitterchen des gewaltigen Mosaikbildes, das die Welt darstellt. Und einmal packt mich das Verlangen, mehr zu sehen als Einzel splitter, packt mich die Sehnsucht, zu wissen, wie die Steinchen zu diesem Bilde oder wenigstens zu einem Teil des Bildes zu sammengesetzt sind. Und dann muß ich Zeit haben zu betrachten, zu denken, zu verweilen, dann muß ich mir Rat und Auskunft holen können über die Fragen, die jetzt überall auftauchen, dann greife ich zum Buch. Und erst jetzt ersteht vor mir das Bild der Welt oder eines ihrer Teile, das Bild einer einsamen Insel oder eines fernen Volksstammes oder eines Menschen oder eines Tieres, jetzt werden Meere und Lufträume überbrückt durch die geistige Kraft, die sich an den schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier leichter und freier entzündet als an dem laufenden Bild oder an dem aus dem Äther aufgefangenen Wort — durch die Phantasie. Ich habe Bengt Berg einmal im Rundfunk sprechen hören über seine Erlebnisse mit Elefanten, ich sah seinen wunder baren Film von den Adlern und hörte dazu die Worte des der Natur so eng verbundenen Mannes, ich sah Bilder aus aller Welt von ihm in einer Ausstellung — aber zu Hause griff ich doch wieder zu seinem Buch »Mein Freund, der Regenpfeifer», und in der stillen Abendstunde war ich erst ganz bei ihm in den einsamen Gefilden Lapplands und fütterte mit ihm das scheue Vögelchen. Film und Wort gab mir Kenntnis von den Dingen, das Buch aber führte mich darüber hinaus und lehrte mich das Wesen dieses Mannes und seines Tuns erkennen und verstehen. Und was für ein Buch auch immer ich zur Hand nehme, ob Freuchens »Eskimo- oder Londons »Abenteuer des Schienen stranges» oder Heyes »Brennende Wildnis» oder »Mädumas Vater» oder die »Jungen der Paulstraße» — immer bin ich durch die Kraft meiner Phantasie wirklich da, in dem Lande, von dem der Dichter spricht und bei den Menschen, von denen er erzählt. Zeitungen und Filme und Radioapparate sind nütz liche und unentbehrliche Dinge, aber niemals sind sie Ersatz für ein Buch, übel berät uns, wer sie dafür anpreist. Es mag viele Leute geben, die werden entgegnen: »Mir genügt, was ich durch Film und Rundfunk und Zeitung von der Welt erfahre». Ich will mit ihnen nicht streiten, aber fie mögen doch einmal die Frage beantworten: Was erfährst du durch Film
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