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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 29.12.1928
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- 1928-12-29
- Erscheinungsdatum
- 29.12.1928
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300, 29. Dezember 1928. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f.d.Dlschn. Buchhandel. noch pflegen. In diesem besonderen Falle aber bedeutet nicht nur das literarische Milieu eine Einschränkung der Allgemein bedeutung der Umfrage, sondern auch die tatsächliche Zusam mensetzung der Büchereien. Bei Rumpf zeigt sich, daß im Borro- mäus-Verein. bei der Dichtung die Gruppen der Volkslitcratur schwach vertreten sind, und daß die realistische Jugendschrist fast ganz fehlt. Wenn Rumpf an einer Stelle seiner Schrift etwa auf die Statistik der Hoffmannschen Jugendbücherei in Dresden- Plauen stößt, die der realistischen Jugendliteratur ihr Recht werden läßt, so glaubt er einen Ausnahmesall feststcllen zu müssen, trifft aber in Wirklichkeit die Regel. Auch das Preisausschreiben des Börsenvereins zielte auf eine bestimmte geistige Schicht unseres Volkes, und zwar auf die geistige Oberschicht, wie sie heute in den höheren Schulen, bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen, sestgestellt werden kann. Die Träger dieser geistigen Oberschicht der Schulen gehören so zial zur bürgerlichen Schicht, reichen aber nach unten ins Hand werkertum, Kleinbeamtentum und in eine geistige Oberschicht der Handarbeiter hinein. Es ist äußerst anziehend zu beobachten, wie sich diese geistige Umwelt des Kindes in den Kinderantworten spiegelt. Politisch z. B. klingen scharf vaterländische, ja nationa listische Töne an, und die entschiedenste aristokratische Weltan schauung wird in gelegentlichen Lobreden auf Stendhal kund. Wie anders wäre die politische Färbung der Antworten gewesen, wenn die Umfrage des Börsenvereins Lus dis Volksschule gezielt hätte! Man muß also schließen: Jedes Kinderurteil über Bücher hat nur relative Gültigkeit. Wer Kinderurteile für eine Theorie der Jugendlcktüre wissenschaftlich verarbeitet, der hat ihre rela tive Bedeutung sorgfältig zu berücksichtigen und den tatsächlichen Zustand der Kindesseele erst hinter dem Urteil zu suchen. Wie weit das möglich ist, bleibt eine offene Frage. Alle bisherigen Erhebungen über das Lieblingsbuch der Jugend gehen von der Voraussetzung aus, daß man vom Buch unmittelbar auf die geistige Verfassung seines Lesers schließen könne. Ich Hab« bisher nirgends die Einschränkung gefunden, daß dieser Schluß nur sehr bedingt richtig ist. Hier stoßen wir also zum zweiten Male auf einen Zwang, die Allgemeinbedeutung jedes Kinderurteils einzuschränken. Gewiß trifft es bei vielen Lesern zu, daß sie das lesen, was in ihrer allgemeinen Gei stesrichtung liegt, und Kinder machen hier keinen' Unterschied. Sie geben sich vielmehr im allgemeinen weit leichter dem Buche hin als der Erwachsene. Aber das ist doch nur die Oberfläche der Lektüre. Die weitaus meisten Leser führt ihre Lektüre weit über den Alltag ihres Geistes hinaus, führt sie auf Sonder- und Nebengebiete, deren sie sich vielleicht selbst nicht klar bewußt sind, und die der Beobachter zunächst nicht einmal ahnt. Wieviel Wünsche und Ideale, wieviel Wunschträume und Kartenhäuser gewinnen in der Lektüre eines Menschen Gestalt. Es ist fast so wie beim Berufsleben vieler Menschen von heute. Dort sinh sie kalte Pflichtmenschen, fachlich, nüchtern bis zum äußersten, ohne daß eine mechanische Berufsbetätigung sie dazu zwäng«. Ziehen sie aber das Arbeitskleid aus, dann werden sie Men schen, oft von feinster Geistigkeit. Solche Doppelwesen sind auch, aufs Geistige übertragen, zahlreich« Bücherleser, und die Kinder erst recht. Will man also von einem Buch auf den Kern ihres Geistes schließen, so fällt man in vielen Fällen voll kommen einem Trugschluß zum Opfer. Charlotte Bühler glaubte zum Beispiel, von der Bevorzugung der Märchenbücher aus das Märchendenken schließen zu können. Der Schluß ist zu einem erheblichen Teil unrichtig. Das Märchendenken charakteri siert sich als die Gleichsetzung von Vorstellung und unmittel barer realer Anschauung und hört in geistigen Kreisen beim Kinde mit dem sechsten bis siebten Jahre auf. Märchen werden aber selbst in der Großstadt bis zum II.—12. Jahre mit Vor liebe gelesen, und es gibt zahlreiche Kinder, die niemals von der Märchenlektüre lassen. Daraus ist zu schließen, daß zwischen dem Märchendenken und der Märchenlektüre ein scharfer Unter schied zu machen ist. Charlotte Bühler kam zu ihrem Irrtum vor allem durch die einseitige Berücksichtigung des Kinder- märchens Grimmscher Ausprägung. Andere, vor allem Rumpf, 1398 haben diesen Fehler nicht korrigiert und berücksichtigen die Mär- chennovclle der Dichter und der Volksliteratur und das exotische Märchen, die sämtlich ins Robinsonalter gehören, fast gar nicht. Die Märchenlektüre ist aber nur e i n Fall, den ich als Bei spiel hinstelle, um meine These zu erhärten. Ich stelle also als zweite Einschränkung der Allgcmeingültig- keit des Kinderurteils über Bücher fest, daß der Schluß vom Buch auf den Loser immer unsicher bleibt, daß man bei ihm vielfach aus Sonder- und Nebengebiete der geistigen Persönlichkeit stößt, die die Arbeit des Forschers ungeheuer komplizieren. Ich komme zu einer dritten Einschränkung und stell« fest, daß das Kinderurteil über ein Buch nur gewisse Rückschlüsse zu läßt auf das geistige Gefüge des Kindes, keineswegs aber aus die tatsächliche Eignung des Buches für den Leser, der es als feine LieblingslSktüre bezeichnet. Das Kind sucht nicht das Buch, das es am stärksten fördert, sondern von dem es die stärkste Wirkung auf seinen Geist erwartet. Es ist also gleich der Masse der erwachsenen Unterhaltungsleser reiner Naturleser. Das Kind verfällt gleich dem llnterhaltungsleser dem Sensatio nellen, dem Zugespitzten, dem, was ihm flinke Schreiberhände auf den Leib schreiben, was also den Kern seines Geistes über haupt nicht berührt. Man denke an die ungeheure Beliebtheit selbst der schlechten Abenteuerliteratur, des seichten Backsisch- buches und der berühmten oder berüchtigten Schundliteratur. Aber auch wo diese Kategorien nicht in Frage kommen, ent spricht der Grad der Beliebtheit beim kindlichen Leser keines wegs ohne weiteres immer der Höhe des literarischen Wertes. Beides ist oft voneinander völlig unabhängig. Else Ury, deren süße Kindergeschichten gewiß keinen Anspruch aus über ragende literarische Qualitäten erheben, ist im Preisausschreiben des Börsenvereins die meistgenannte Autorin, und der vor eini gen Jahren verstorbenen Henny Koch, die zahlreiche schnurrige, über literarisch ebenfalls anspruchslose Backfischgeschichten veröf fentlicht hat, kann jeder Kundige leicht nachrechnen, daß von ihren Büchern weit über eine Million Bände verbreitet sind. Rumpf insbesondere ist dem Trugschluß zum Opfer gefallen, daß das Lieblingsbuch auch das erziehlich beste Buch sei. Das ist beHhihm zunächst kein methodologischer Fehler, sondern läßt sich einfach als nicht pädagogisches Denken kennzeichnen. Rumpf hält vielleicht mit einer gewissen starken pädagogischen Strömung der Gegenwart die stärkste geistige Bewegung auch im Sinne des Erziehungsgedankens für am wertvollsten. Förderung der gei stigen Funktion heißt bei jenen Pädagogen die Parole und man spricht von einem funktionalen Bildungsideal. Man will also den kindlichen Geist wohl fördern, ihm aber keine fremden Wert« zuführen. Dieses funktionale Bildungsideal ist aber heute im Rückgang begriffen. Man fängt wieder an, den Wert des ge formten Kulturstosfes zu begreifen und denkt wieder pädagogisch, während man vorher im Psychologischen stecken blieb. Erziehung ist geistige Zweck- und Zielsetzung, sie baut auf der Jugend psychologie ans, ist aber von ihr scharf zu scheiden. Auf unser Gebiet angewandt bedeutet das, daß, wenn die seelischen An griffspunkte des Buches und das seelische Gefüge des Kindes genau festgestellt sind, dann erst die Literarpädagogik be- - ginnt. In methodologischer Hinsicht aber stelle ich fest, daß der Bearbeiter von Kinderurteilen über Bücher zunächst aus Psycho logischem Gebiet zu verbleiben hat, und daß das Pädagogische Gebiet in scharser Sonderung anzuschneiden ist. Ohne diese drei Grundvoraussetzungen bleibt jedes Ergebnis der Bearbeitung von Kinderurteilen über Bücher unsicher. Fast alle bisherigen Forscher haben gegen diese oder jene Grundvor aussetzung verstoßen und sind deshalb kritisch zu werten. Wenn man von hier aus das Preisausschreiben des Börsenvereins prü fend überblickt, so wird man auch von ihm keine vollständige und endgültige Lösung des Problems der Jugendlektüre erwarten können. Es bleibk ein sehr schätzenswerter Beitrag, der seine Bedeutung besonders dadurch erhält, daß er die Kinder zum Anwalt der Buchwelt gemacht hat. Im übrigen muß er im Rah men der Gesamtproblematik gewertet werden. (Schluß folgt.)
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