Nr. 228 (R. 128). Leipzig, Sonnabend den 29. September 1928. 9S. Jahrgang. RedMwueller TA 100 Jahre Reclam. Daß am 1. Oktober das Haus Philipp Reclam jun. das hundertjährige Bestehen feiert — es ist ein Ehren-Denktag für den ganzen deutschen Buchhandel. Für eine große Schar jen seits der Grenzen des Buchhandels, der -Reclam« nicht anders ist wie eine Gabe des Lebens, di« da ist — man fragt nicht We, Woher, seit wann, gewiß ein Tag fast verwunderten Besinnens zu der Vorstellung, daß hinter -Reclam« Reclams sind und gewesen sind! Der Gründer des Hau ses, Anton Philipp Reclam, war geboren in Leipzig am 28. Juni 1807, machte sich jetzt vor hundert Jahren selbständig, am 1. Oktober 1828 erschien seine erste Verlagsschrift, am 1b. No vember 1867 das erste der Bändchen, die Reclam zu »Reclam» machten, er starb am 5. Januar 1896. Sein Sohn und Nachfolger war Hans Heinrich Reclam, seit 1863 im Geschäfte tätig, seit 1868 Teilhaber, von größerer Bedeutung für die Entstehung der Universal- bibliothck vielleicht, als sich im Einzelnen dokumenta risch Nachweisen läßt, heute stehen an der Spitze des Unternehmens die Enkel vr. Ernst Reclam und Hans Emil Reclam. Die Wurzeln zu dem, was das Haas Reclam groß gemacht hat, in einer Weise, daß man den heu tigen Gedenktag wirklich ein »Kulturereignis» nennen kann, liegen in den Jahren vor 1867. Die Mitte des Jahrhunderts teilt Anton Philipps Geschäfts tätigkeit in zwei Abschnitte. Auch die Zeit vor 1850 zerlegt sich in zwei Zeitabschnitte. Von der Persönlichkeit des Gründers, seinem innern Ent wicklungsgang wissen wir leider wenig; keine Briefe, keine Aufzeichnungen sind vorhanden; erst der Reclam der letzten Lebensjahrzehnte steht, nach Mitteilungen und Erinnerungen von denen, die ihm nahe standen, deutlich vor uns. Im Vaterhaus hat Anton Philipp buchhändlerische Lust geatmet und kann Luft der Selbständigkeit und Freiheit ein- gesogen haben. Sein Vater Carl Heinrich war der erste Buch händler der Reclams. Er ließ sich in Leipzig nieder 1802 als Verlags- und Sortimentsbuchhändler. Sein Verlagsgebiet war wissenschaftliche Literatur, und zwar kommt die größte Zahl der Bücher auf die Medizin, nach ihr aus Naturwissenschaften und Theologie; die übrigen Bücher sind klassisch-philologische, Schul bücher und Bücher des Gebrauchs, ganz vereinzelt philosophische. Sein Geschäft hat unter ihm bis in die Zeit hinein bestanden, in der schon sein Sohn das seinige hatte, von diesem Bestehen der beiden Reclamschen Geschäfte nebeneinander schreibt sich die Firma Anton Philipp jun. her. Die Reclams waren savoy- ischen Stammes, lebten vom zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts an in Gens, noch Carl Heinrichs Geschäft hieß zuerst Char les Henri Reclam, der Tausname des Sohnes war Antoine Philippe. In dem Jugendbildnis Anton Phi lipps, dem Bild eines Jünglings von. Geist und Anmut, ist deutlich sichtbar, daß erst seine Mutter die erste Deutsche in einer Stammlinie französischen, mütterlicherseits auch ita lienischen und englischen Blutes war. Charles Henri bewahrte das Schwert, das er in den Reihen der Jako biner bei der Hinrichtung Robespierres getragen hatte. Als Geschäftsmann ging er seinen eigenen Weg. Er ge hörte zu der kleinen Gruppe und war ihr unbeugsamster Vertreter, di« Widerstand leisteten gegen Leipziger Rabattkonventionen, Unter bindung der Handelsfrei heit nach seiner Anschauung (die von großen Verlegern Arnold Brockhaus teilte). Die Vor fahren feit Jean Rcclan (geb. 1591) — die alte Namens form in den Urkunden des Genfer Staatsarchivs und den Fa- nrilienackten bis zur Einwanderung nach Deutschland — waren Goldschmiede; Balthasar (geb. 1666) ging nach Irland, sein Sohn Jean wunderte in den 1720er Jahren aus Dublin nach Deutschland ein, nach Magdeburg, und ging 1739 von da nach Berlin; hier haben er und sein Sohn Jean Francois, die beiden letzten vor dem ersten Buchhändler, eine ansehnliche Tätigkeit als Goldschmiede und Juweliere entfaltet (historisch bemerkens wert durch geschäftliche Beziehungen zu Friedrich dem Großen; die Reclams arbeiteten seine Geschenkdosen). Hier in Berlin war dann Charles Henri auch in der buchhändlerischen Lehre, bei 1069 Das „Literarische Museum" in der Grimmaischen Straße in Leipzig, »po Anton Philipp Reclam 1828 seine verlegerische Tätigkeit anfing.