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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 04.06.1921
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- 1921-06-04
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- 04.06.1921
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Börjenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Redaktioneller Teil. ^ 128, 4. Juni 1921. die »Idealisierung unserer Sinne« zu tun. Statt ein »Sichauslebcn« will er ein »Sichausarbeiten« und ein »Sichcindenkcn«. Er will die Goethcschc Geistesgcsnndheit erwecken in einer men schenfreundlichen Schönhcitslehre*). »Hätte ich nicht«, schreibt er als 64jühriger, das ganz unverdiente Glück, von Haus aus ein kerngesunder, arbeitsfrcudiger, genußfrvher Kerl und von oben bis unten mit Liebe und Dankbarkeit geladen zu sein, daun würde ich alle Tage beten: Herr der Heerscharen, las; träu feln in mein Gemüt doch wenigstens den Schein und die Verehrung der Gesundheit, auf das; ich durch Suggestion teilhaftig werde jenes star ken Humors, der zur Verwandlung dieses irdischen Jammertales in eine Schauburg der Schönheit und Schaffensfreude vonnöten ist.« Für Hirth gab es nur einen Weg zu würdevoller und wahrhaft sittlicher Ästhetik. Und dieser Weg ging über die Stählung der leib lichen und geistigen Kräfte, über die harmonische Übung und recht zeitige Enthaltsamkeit, über die sicgesgewisse Bekämpfung der Unfrei heit in jeder Form und mündete in der Einfalt und Fröhlichkeit des Herzens. Und weil er selbst diesen Weg ging, konnte Georg Hirschfelö dem Toten uachrusen, er sei »ein von Blüten umkränzter, fester Fels« ge wesen. Hirth kannte kein Hin- und Herschwankcn, für ihn war das, was er unter Freiheit verstand, wie wir später noch sehen werden, unver rückbar feststehend. Der Mensch soll sich seine göttlichen Ideale selbst schaffen und den Willen zur Freiheit — zu jener edelsten Freiheit, die keine Spur von Willkür an sich trägt — zur Lebensmaxime machen. Mit den« Kismet oder dem christlich guictistischcu die Händc-in-den- Schoß-legen konnte Hirth nichts anfangen. Ta er selbst vollkommen ans dem Boden des Determinismus steht, könnte darin ein gewisser Widerspruch in seiner Natur vermutet werden. Und doch war dem nicht so. Er erkennt den Kampf um die Freiheit als ein Glücksspiel an, aber er betont gleichzeitig, das; dies Spiel gespielt werden m u s;, daß hierbei unsere ganzen Kräfte eingesetzt werden müssen und das; die Anerkennnng des orientalischen Kismet ein Mißbrauch des im Menschen wohnenden Funken von Willensfreiheit ist und dazu führt, der menschlichen Faulheit zum Siege zu verhelfen. Und Faulheit war Georg Hirth so ziemlich das Widerlichste. Nicht daß er im Arbeitsbann darauf vergessen hätte, Sonne zu trinken und die Tage des Lebens zu genießen! Aber Arbeit war ihm Beruf, Not wendigkeit, Bedingung eigener Genusifrendigkeit und Genußfähigkeit. Noch als alter Mann stand er um 5 Uhr morgens ans, frühstückte »wenn die übrige zeitnnglesende Menschheit noch schnarcht« und ging dann sofort an die Arbeit. Am Nachmittag liebte er eine Spazier fahrt zu machen und Freunde beim Kaffee bei sich zu sehen. Er trank nahezu keinen Alkohol und hielt ihn für den Vergifter und Entarter der Menschen. Er hatte den Schlaf des Gesunden. In seinen letzten Lebensjahren wachte er oft in der Nacht auf und ging an den Schreib tisch, um zu arbeiten. Er hatte deshalb sein Bett in seinem Arbeits zimmer. Seit einer Lungcnaffek'tion in Jahre 1906 hat er auch nicht mehr geraucht. Er arbeitete, wie stark Produzierende stets arbeiten: unter voller Konzentrierung seiner Gedanken ans den Gegenstand, da her rasch trotz großer Gründlichkeit. Es ist für Hirth charakteristisch, daß er seine Anschauungen über den Alkohol, wie eigentlich alles, über das er als ein ernsthaftes Pro blem nachgeöacht hat, in wissenschaftlicher Weise publiziert. Er schrieb eine wertvolle Abhandlung über das »erotische Temperament und die alkoholische Entartung«, in der er unter anderem für die Ehefrauen einen wirksamen, unter Umständen strafrechtlichen Schutz gegenüber dem trunkenen Gatten fordert und mit kraftvollsten Beweisen die Männer beschwört, im Alkoholrausch, wozu auch die leichteste Form des Angeheitertseins gehört, geschlechtlichen Verkehr nicht auszuüben, weil > dadurch die Nachkommen degenerieren. Ihm, als einem, der die Ent lastung der Menschheit von den Sünden der Väter erstrebt, ist der Alkohol ein Todfeind. Und nicht nur deshalb, sondern auch weil er mit Recht im Alkohol den Faktor erblickt, der das Liebesleben des Menschen verroht und die Liebesfühigkeit, namentlich des Mannes, vorzeitig beendet. Georg Hirth war ein Meister der Liebe. Kaum einen deutschen Schriftsteller hat es zu seinen Zeiten gegeben, der über die Psychologie der Liebe so nackt geschrieben hat wie er. Man hat ihm das vorgc- worfcn, man hat die Nase gerümpft (nachdem mau lüstern seine Sachen gelesen), man hat ihn nicht verstanden. Ihm war es auch in der Be handlung der sexual-ethischen Fragen um den Kampf gegen die Heuche lei der Kirche und ihrer Diener zu tun, um die Bloßstellung jener geilen Mucker, die unser gesundes natürliches Volksempfinden für die *) Die Idealisierung des Geschlechtstriebes behandelt Hirth in seinen beiden entzückenden Aufsätzen »Goethes Christiane« und »Goethe und die beiden Sinnlichkeiten«. Beide Aufsätze in den »Wegen zur Liebe«. 768 Natürlichkeit und Würde sexueller Dinge bis in den Grund hinein verdorben haben. Georg Hirth war so mutig, wahr zu sein und den sexuellen Akt als einen Akt der Erhabenheit anfzufasseu und jeden Versuch, in ihm etwas Schmutziges, Niedriges zu sehen, als ein Ver brechen zu brandmarken. Vorwiegend durch die Kirche ist jener Zug der Heuchelei in unser Liebesleben gekommen, der uns weit weg führt aus dem seligen Land der Schönheit. Um aber znrückzufinden, ist die Idealisierung unserer Sinne notwendig. Dieser Grnnözug in seiner Auffassung hängt eng mit seinem Standpunkt der Religion gegenüber zusammen. Er war ein Anhänger Haeckcls, und einmal in allen seinen Schriften fand ich auch den Aus druck »uach meiner monistischen Anschauungsweise«. Ihm ist Religion Eiitwicklnngsstadinm menschlicher Geistigkeit. Er sagt: »Ich kann ln den Religionen der Menschheit nur eiue ebenso notwendige als interessante Entwickelungsstnfc erblicken, die dnrchgcmacht und über wunden werden muß, bevor unser Geschlecht in das noch bewunde rungswürdigere Mysterium der inneren Freiheit oder sagen wir: des biologischen Idealismus eintrcten kann. Hier erst erblühen aus tiefster Einsicht jene höchsten Tugenden des Herzens, die wir bis her nur als glückliche Entfaltungen edler Instinkte oder als Produkte sorgsam gepflegter Gottesfurcht kcnnn gelernt hatten«. Während Hirth jeder Metaphysik nnd Teleologie (ausgenommen der in der Annahme der biologischen Entivicklungskurve ja schließ lich auch vorhandenen) ablehnend gegenüberstcht, ist er doch keineswegs arm an religiösem Empfinden*). Er weis; nur, daß dieses eigene Gefühl dem durch den augenblicklichen Standpunkt des §evv8 lluruavuin be dingten Entwicklungsstadium entspricht. Daß ihm die Konfession als etwas Überflüssiges erscheint, die Kirche als etwas im Vergleich zum Entwicklungsstadium der Kultnrmenschheit Atavistisches, ist bei ihm selbstverständlich. Hirth wehrt sich einmal in einem Aussatz »Sind wir gottlos und irreligiös?« gegen den Vorwurf, er sei ein Atheist. Und was er schreibt, ist wertvoll für sein Porträt, das wir in diesem Blatte festlegcn wollen: »Es ist mir, wie sicherlich vielen Gleichgesinnten, schmerzlich, wenn man von uns sagt, wir seien Atheisten und wir haben keine Religion. Wahrlich, den Namen Gottes möchte ich so wenig aus unserer Mutter sprache verbannt wissen, wie ich vor Freunden wie Feinden als ir religiös gelten möchte. Und zwar wirklich aus dem wahrhaftigen Grunde, weil ich Gott nicht leugne, sondern nur an den Gott nicht glauben kann, an den glauben zu m ü s s e n mir zugemutet wird. Alles, was über M e n s ch e n k r a f t geht, ist mir ,Gott*: ich sehe ihu nicht, ich bin nicht so anmaßend, ihn zn beschreiben, oder auch nur als ein menschenähnliches Wesen zu betrachten, und bei allem Respekt vor Moses und den Propheten kann ich in den Offenbarungen nur menschliche Gesichte von subjektiver Färbung erblicken: aber ich leugne Gott nicht, weilzumL e ugnen ein weitübcr meine Kraft reichendes Wissen gehören würde. Und warum soll ich ihn leugnen? Etwa weil ich meinen brennenden Idealismus nicht in einer der zwanzig oder dreißig Religionen unterbringen kann? Soll ich den hunderterlei Pfaffen des Erdenrundes den Gefallen tun nnd leichten Sinns auf mein ewiges Recht auf Gott verzich ten, nur weil ich nicht nach ihrer Pfeife tanzen mag?« In einem Brief an die Abiturienten des Gymnasiums zu Alten burg schrieb Hirth: »Pflegen Sie die Religion des Mitleids und der Dankbarkeit.« Man möchte wünschen, das; die Millionen von Betschwestern und maschinenmäßig Gebete plappernden Betbrüdern so ernst, so ehrfürchtig sich mit Gott beschäftigten, wie dieser Heide. Tie Welt wäre Gott näher. Man hat von ihm behauptet, daß die religiöse Frage ihm wenig Sorge mache, und daß sein Verhältnis zur Welt des Göttlichen seicht war. Das elftere ist richtig. Warum sollte er sich Sorgen machen, da er volle Klarheit seiner Empfindung hatte? Daß aber sein Ver hältnis zum Göttlichen seicht war, ist eine unwahre polemische Be hauptung derer, die keinem Menschenherzcn erlauben wollen, zu Gott zu kommen, es sei denn durch die von Menschen gemachte Kirche. Diese Kirche hat er verachtet, weil er glaubte, ihre Verderbtheit, ihre Unwürdigkeit, sich als ein Organ Gottes zu betrachten, aus der historischen und aus der zeitgenössischen Erfahrung kennen gelernt zu haben. Ein Organ menschlicher Machtpolitik kann nichts mit Gott zu tun haben. Aus dieser Ansicht entsprang seine Stellungnahme, die wir hier nicht zu kritisieren, sondern nur als Tatsache zu berichten haben. Mit spekulativer Philosophie hat sich der Tatmcnsch Hirth nicht abgegeben. Die Gründe sind aus dem, was wir von ihm bereits wissen, ableitbar. Ten Pessimismus Schopenhauers und seiner Gefolgschaft *) Vgl. »Wege zur Liebe«, S. 594, wo er über das schreibt, was der Mensch über das Grab hinaus behält. »Alles«, sagt er. »ist nun Religion, nur Religion, nnd zwar Religion ohne Konfession. Nirgends ist in Wirklichkeit die Konfession nebensächlicher als an der Pforte des ewigen Friedens«.
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