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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 22.08.1917
- Strukturtyp
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- Band
- 1917-08-22
- Erscheinungsdatum
- 22.08.1917
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- Deutsch
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Redaktioneller Teil. 195, 22. August 1817. recht knappen freien Zeit weg, als für ihre Gesundheit gut ist. Auch geht durchaus nicht alles so ganz nach ihrem Kopfe in der Fabrik, wie es dem Dichter erscheint. Einmal teilt in großen Unternehmungen der Direktor die Leitung mit noch anderen — auch selbst dann, wenn er Generaldirektor ist. Außer dem hat er noch eine Behörde — den Aufsichtsrat — über sich. Auch ersterben die Arbeiter, wenn ein Direktor durch die Fabrik kommt, durchaus nicht in Ehrfurcht — nehmen nur dann von ihm Notiz, wenn sie angesprochen werden. In ganz großen Unternehmungen kennen die Arbeiter nicht einmal alle Direk toren, denn sie haben es der Hauptsache nach nur mit ihren Abteilungsleitern zu tun. Wird das Problem umgekehrt behandelt und der Betrieb mit dem Auge des Arbeiters gesehen, so werden die Urteile nicht weniger schief. Dann ist die Fabrik der große Moloch, der alle verschlingt, aus den Angestellten Maschinen macht — sie erst durch die Übermacht des Kapitals um ihre Selbständig keit gebracht hat und sie dann vollkommen aussaugt. Daß der größte Teil der Leute sich der ganzen Veranlagung nach nicht zur Selbständigkeit eignet, daß viele darunter sind, die ihre Selb ständigkeit aufgeben mußten, weil ihnen entweder die Be fähigung fehlte, oder weil sie von der Freiheit, die ihnen die Selbständigkeit ließ, einen unzweckmäßigen Gebrauch machten, über ihre Verhältnisse lebten und Geschäft Geschäft sein ließen; daß dann der moderne Großbetrieb diese Leute vor dem völligen Untergang bewahrte und ihnen sogar reichliches Aus kommen bietet, wenn sie wirklich in ihrem Fache brauchbar sind, davon erfährt der Leser aus Romanen selten etwas. Die Fabrik ist weder ein Paradies noch eine Hölle — sie ist ein Erwerbs institut für alle Beteiligten, und nicht alles ist gut — kann es auch nicht sein, weil die Beteiligten an einem Kardinalfehler leiden: daß sie Menschen sind. Vieles ist verbcsscrungsfähig, und unbenommen bleibt es dem Romanschriftsteller, verbessernd einzugreifen, das will sagen, mit seiner Phantasie der Zeit vorauszueilen. Nur darf er sich, wenn er etwas erzielen will, nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernen, muß mit seiner Phantasie auf unserer leider recht unvollkommenen Erde bleiben. Er darf auch nicht vergessen, daß bereits recht vieles getan wurde, um das Los der an die Fabrik gefesselten Menschen zu bessern. Gerade in Deutschland sind alle möglichen Wohlfahrtseinrichtungen versucht und auch zum Teil durchgeführt worden. Manche haben ihr Ziel erreicht — andere sind gescheitert, konnten nicht durch- gefllhrt werden, weil sie entweder einer gesunden Unterlage entbehrten — öfter aber noch weil die Bestrebungen von den Menschen, denen sie helfen sollten, unvernünftigerweise durch kreuzt wurden. Hier, wo das rein Menschliche zur Geltung kommt, wäre für den Dichter das dankbarste Feld, fördernd und aufklärend einzugreifen, immer wieder und wieder zu zeigen, daß bei gutem Willen vieles besser gemacht werden könnte. Aber leider — der Dichter weiß recht wenig davon. Nur selten klingt diese Saite. Er weiß auch recht wenig davon, daß wir in unserer staatlichen Arbeiterfürsorge das größte Kulturwerk aller Zeiten vollbracht haben, weiß wenig von dem Meer von Tränen, das unser staatliches Versicherungswesen getrocknet — weiß wenig davon zu berichten, daß heute in Zeiten der Bedrängnis auch dem ärmsten Teufel Hilfe und Schutz zuteil wird, daß der Kranke, der Krüppel nicht hilflos auf der Straße liegt, dem Mitleid der Menschen überantwortet — daß er nicht zu betteln braucht um ärztliche Hilfe, um Heilmittel, um Pflege, sondern fordern kann. Die Hälfte der deutschen Bevölkerung ernährt sich durch Gewerbe, Industrie und den damit verbundenen Handel, und wie wenig trägt die schöne Literatur diesem Umstande Rech nung! Wir beklagen uns heute, daß die Welt uns verkennt, daß alle Völker auf uns herumhacken — war der Spiegel des Lebens, den die schöne Literatur bilden soll, nicht doch auch etwas sehr schief und zeigte das Leben verzerrt — war er nicht auch reichlich blind und strahlte das Leben grauer zurück, als es wirklich war? 984 5. Ausblicke. Zugegeben — wird der Verleger sagen; es ist manches nicht so, wie es sein könnte und sollte. Der Strom des Lebens, der so reich wie niemals noch, seit eine Kultur besteht, dahinrauscht, findet nicht das Echo in der schönen Literatur, das er erwecken sollte. Unendliche Schätze bleiben ungehoben, während andere Quellen bis zur Erschöp fung ausgcnützt werden. Zugegeben — zugegeben auch, daß darunter nicht nur in idealer Hinsicht Werte verloren gehen, daß auch der geschäftliche Teil darunter leidet. Aber was sollen wir Verleger machen? Wir können die Zustände nicht ändern. Was uns die Autoren nicht bringen, das können wir beim besten Willen nicht ver legen. Und die Dichter? Was sollen wir nicht alles können — werden sie sagen. Eure Technik — wie sollen wir uns darin zurechtfinden? Fin det sich doch der Techniker selbst nicht zurecht. Der eine ver steht wohl eine komplizierte Maschine zu bauen — aber wie man einen Tunnel durch den Berg bohrt, das versteht er nicht. Der andere kann wohl einen Wagen bauen, der sich mit eigener Kraft auf der Erde bewegt, aber wie man ein Schiss in Be wegung setzt, bleibt ihm fremd, und ein Dritter findet sich tief unter der Erde zurecht — wie man aber das Reich der Lüfte be herrscht, davon versteht er nichts. Jeder kann etwas, aber nichts Ganzes. Und erst die Wissenschaftler! Die gehen noch weiter aus einander, sind derart spezialisiert, daß der eine nicht die Sprache des anderen versteht — wie soll da der Dichter sie verstehen — wie ihre Arbeit dem großen Publikum mundgerecht machen? Und wie soll er sich in dem vieltausendköpfigen Ungeheuer eines modernen Großbetriebes zurechtfinden? Wie unterschei den, was gut und schlecht, was gerecht und ungerecht ist? Hört man eine der leitenden Personen, so beklagt sie sich über die Arbeiter — hört man diesen, so wettert er über die Leitung. Alle rennen nur dem Verdienst nach — von Idealen keine Spur. Der Dichter, der so spricht, hat von seinem Standpunkt aus vielleicht auch recht, aber es fragt sich nur, ob dieser Stand punkt richtig ist. Gewiß kann in der Zeit der Spezialisierung der Arbeits teilung auf allen Gebieten der Dichter das Leben nicht mehr zusammenfassend beschreiben. Er kann es ebensowenig, wie ein Techniker in allen Fächern der Technik bewandert sein kann. Der einzelne Roman kann daher immer nur einen kleinen Aus schnitt aus den Lebensfunktionen der Allgemeinheit geben, wohl aber könnte die gesamte Romanliteratur ein annäherndes Bild der Zeit geben, wenn jeder Autor sich ein eigenes Gebiet wählen und bearbeiten würde, und wenn wenigstens die wichtigsten Gebiete gleichmäßig vertreten wären. Das ist leider nicht der Fall, weil der Werdegang des Dichters nicht mitten in das Leben hinein, sondern meist ab seits davon führt. Die Schule kann ihm nur das Werkzeug seiner Tätigkeit schärfen, nicht einmal geben. Haben mutz er dieses — Gestaltungskraft und Sprachgewandtheit — schon als Naturgabe. Weiter kann sie ihm Beispiele vor Augen führen, wie andere dieses Werkzeug angewandt haben. Damit ist aber nichts Rechtes anzusangen. Der Dichter braucht das Material, das er bearbeiten will, und das kann ihm nur das Leben geben. So quält er sich anfangs nutzlos — schreitet von Mißerfolg zu Mißerfolg und mutz, wenn er nicht bemittelt ist, um leben zu können, geistige Fronarbeit leisten, die er sich in seiner Berufssphäre sucht, und kommt damit immer mehr vom wirk lichen Leben ab als in dieses hinein. Und wenn ihm dann end lich der Wurf gelungen ist, da ist er bereits so verbittert, daß er das Leben grau in Grau sieht und entsprechend schildert. Wäre es nicht richtiger, wenn der junge Mann, der glaubt, später die Welt mit wertvollen Literaturprodukten beschenken zu können, den ein innerer Drang dazu treibt, sich von vorn herein sagen würde: ich muß mir erst einige Jahre den Wind um die Nase wehen lassen, ehe ich die Feder zu dem großen
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