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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 05.09.1916
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- 1916-09-05
- Erscheinungsdatum
- 05.09.1916
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206, 5. September 1916. Redaktioneller Teil. Es muß zunächst gesagt werden, daß der Durchschnittsdeutsche leider gewohnt ist, das Bild als etwas durchaus Minderwertiges zu betrachten. Herr vr. Lange, der Verfasser des fraglichen Auf satzes, gibt selbst den besten Beweis dafür. Er meint, der Zeit- fchrtftenleser solle sich die Bilder ausschneiden und auf diese Art ein kleines Hausmuseum zusammenbringen, aber er scheint durchaus nicht die Ansicht zu vertreten, daß besagter Leser sich auch die Romane, Novellen und ähnliche Dinge aus seiner Zeit schrift zur Begründung seiner Bibliothek ausschneiden müsse. Daß das eine für empfehlenswert gehalten wird, während das andere als selbstverständlich zu vermeiden gar nicht erwähnt wird, spricht mehr als Bände über die Einseitigkeit unserer gei stigen Schulung. Sowie ein Junge seine ersten langen Hosen trägt, werden ihin zunächst einmal die Klassiker unserer poetischen Literatur geschenkt. Er erhält sie in doch immerhin nach Talern rech- nenden Ausgaben, und sie dürfen in keinem deutschen Hause fehlen. Das ist natürlich wundervoll, und wir Deutschen ver danken diesem geistigen Zuge unserer Natur Unendliches. Aber ich habe noch keine deutschen Eltern kennen gelernt, die ebenso auf den Gedanken gekommen wären, ihren Heranwachsenden Kin dern die Werke von Dürer, Holbein, Grünewald zu schenken. Warum eigentlich nicht? Die triviale Antwort liegt natürlich sofort auf der Hand: ein Buch kann jeder verstehen, ein Werk der bildenden Kunst aber nur derjenige, der eben etwas davon versteht. Diese Ant wort ist selbstverständlich völliger Unsinn. Um ein Buch zu ver- stehen, muß man erst richtig lesen lernen, d. h. nicht nur mit den Augen; um ein Bild zu verstehen, mutz man gleichfalls erst richtig sehen lernen, d. h. auch nicht nur mit den Augen. Warum ist unsere ganze Erziehung einseitig darauf zngespitzt, nur richtig lesen zu lernen, und warum wird das Lernen des richtigen Sehens als eine ganz und gar nebensächliche Sache jedem nach freiem Belieben überlassen? Ich kenne hochgebildete Leute, die im Faust außerordentlich gut Bescheid wissen, und von denen man, sobald auf ein Bild die Rede kommt, derartig ungebildete Antworten erhält, daß sich einem die Haare sträuben. Sie wissen alle ganz genau, daß ein Hexameter kein Pentameter ist, aber sie können Radierung und Stahlstich nicht unterscheiden. Dabei ist es gar keine Frage, daß gerade diese Menschen oft jahrelang keinen Hexameter zu Ge sicht bekommen, aber irgendein Bild sehen sie fast alle Tage. Das sind dieselben Leute, die einem, wenn man eine Dürersche Madonna einer Raphaelschen vorzieht, antworten, sie begriffen das gar nicht, denn die alten deutschen Meister hätten doch weder richtig malen noch zeichnen können. Ist dieser fabelhafte und sehr unglückliche Zwiespalt zwischen lesen und sehen in Deutschland etwa auf eine Gleichgültigkeit der Deutschen dem Bilde an sich gegenüber zurllckzuführen? Kei- »eswcgs. Es gibt kein bildcrfrcndigeres Volk als das deutsche. Nirgends verlangt der Leser in Europa so entschieden, daß die Zeitschrift, die er hält, möglichst gut und möglichst reich illustriert sein soll. Nur beim deutschen Volke ist die Gewonheit aufge- kommcn, die Wände der Wohnung so dicht mit Bildern zu be decken, daß man kein Stückchen der Tapete sehen kann. Wem nicht von Kindheit an gesagt wird: Goethe ist gut, und der Roman von Rinaldo ist schlecht, der wird zeit seines Lebens den Rinaldo lesen. Darum bekämpfen wir ja die Schund literatur. Der so unbelehrte Leser kann natürlich nur das Stoff liche sehen, aber keine Wertung der Form besitzen. Und von diesem Standpunkt ans hat der Rinaldo zweifellos gewisse Vor züge - wenn man das so nennen darf — gegenüber dem Wilhelm Meister. Wer nicht sehen gelernt hat, wird gleichfalls immer nur das Stoffliche sehen. Er wird sich irgend ein süßes Puppen gesicht von Sichel lieber aufhängen, als einen Dachauer Bauern von Leibl. Schulen, Volksbildnngsvercine, Volksbüchereien sind eifrig bemüht, die Menschen richtig lesen zu lehren. Aber das richtige Sehen fliegt einem offenbar im Schlafe an und hat gar keine Schulung nötig. Man nehme sich bloß einmal eine wirklich volkstümliche illu strierte Zeitschrift vor. Ich meine natürlich keine von den großen Revuen für Gebildete, obgleich sich da auch manches sagen ließe. Da treffen wir kein Bild, weil etwas an ihm, son dern nur immer, weil etwas in ihm zu sehen ist. Und dann die Erklärungen zu den Bildern! Am besten ist es noch immer, wenn gar keine da sind. Aber sind welche da, so liest man etwa zu einem Bilde »Träumerei« folgenden Text: »Die schöne Frau sitzt am Fenster. Sie hat das Haupt sinnend in die Hand geneigt. Denkt sie an den entfernten Geliebten, der auf den blutigen Fel dern Frankreichs sie und das Vaterland verteidigt? Gott wird ihn ihr wiederschenken!« Also wörtlich gelesen im Jahre des Heils 1916. Das ist nun freilich ein sehr krasser Fall. Aber er ist typisch sllr eine eigenartige und grundsätzliche Erscheinung. Der Redak teur vermag eben nicht beim Leser das Verständnis der Bilder an sich zu unterstützen, weil er selbst nicht sehen kann. Wir sind alle Blinde. Und weil wir Blinde sind, müssen wir uns damit helfen, daß wir ein bißchen lesen können, wir müssen das Bild durchaus durch das Medium des Literarischen betrachten, um uns darauf einen Vers zu machen. Ich habe nun seit 15 Jahren mit Redaktionen zu tun und bin seit 10 Jahren selbst Redakteur. Wo «ine Redaktion ist, da ist auch ein Sekretariat. Die jungen Damen sind meist hochge bildet und kommen mit irgend einem Bande der Klassiker in der Hand ins Bureau. Keine Elektrische ohne Goethe! Und sie haben auch das Bedürfnis nach dem Bilde. Noch überall, wo ich herum kam, hingen in den Sekretariaten Bilder an den Wänden. Aber — Hand aufs Herz! — ich habe noch keines darunter gesehen, das innerlich einen Sechser wert gewesen wäre. Die tiefe Freude am Bilde, die im deutschen Volke lebt, ist wahrhaft schön und rührend. Es gibt keinen Handwerker, dem nicht die Arbeit leichter von der Hand ginge, wenn seine Wand schön mit Bildern beklebt ist. Und die Bilderei, die Herr vr. Lange fordert, besteht in Wirklichkeit schon lange. Man wird wohl nirgends in das Heim einfacher Menschen kommen, ohne daß da irgendwo eine Mappe liegt, in der aus alten Zeit schriften ausgeschnittene Bilder zur Erheiterung öder Abende aufbewahrt werden. Aber allen diesen Hungrigen wird ein Stein statt des Brotes gereicht, alle diese im Grunde der Schönheit bedürftigen Augen werden mit Schundliteratur der bildenden Kunst gespeist. Und warum? Weil sie alle nicht sehen gelernt haben, die Ver langenden wie die Darbietenden. In einer Zeit, die alle Sinne mit den raffiniertesten Mitteln befriedigt, ist der köstlichste Sinn, das Auge, derart verarmt, daß man weinen könnte. Diesem grundsätzlichen Übel, das in Wahrheit die ungeheuer liche Minderwertigkeit unserer Zeit gegenüber dem alten Grie chentum beweist, ist nicht damit abzuhelsen, daß man eine Un zahl wild gewordener Scheren gesetzlos auf innerlich ebenso gesetzlose Zeitschriften losläßt. Das würde das übel höchstens vergrößern. Eine Frage der innerlichen Volksgesundheit scheint es mir zu sein, daß man in Volksschulen und Gymnasien in Zukunft nicht nur lesen, sondern auch sehen lernt. Wie das zur Zeit Platos war, nnd wie er diesem Grundsatz im »Lysis« das unvergänglichste Denkmal gefetzt hat. Erst dann wird sich über eine Kultur überhaupt reden lassen, die jetzt in ganz Europa nur ein Wort ist. Und wenn das geschehen ist, dann wird auch die Zeit kommen, in der die Bilderei eine ebensolche Selbstverständlichkeit sein wird wie die Bücherei. Weil dann das Bild tatsächlich einen see lischen Wert repräsentieren wird. Die Aufgabe des Sortimenters aber in solcher Zeit würde sich so erweitern und verschönern, daß es jeder Mensch als höchstes Glück betrachten würde, Sortimenter zu werden (was heute nicht immer unbedingt der Fall sein soll). Er würde es dann auch Wohl mit einem, nehmt alles nur in allem, erfreulicheren Publikum zu tun haben. Aber ich fürchte nur, diese goldene Zeit wird niemals kommen. Oder vielleicht fehlt mir auch nur das Organ für den sogenannten Fortschritt des Menschengeschlechts. Lothar Brieger. 1161
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