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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 19.08.1908
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- Ausgabe
- Erscheinungsdatum
- 19.08.1908
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- Deutsch
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8776 Börsenblatt s. l>. Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. ^ 192, 19. August 1S08. in die Bahnhofshalle von Alexandrowo, der russischen Grenz station, ein. Ich wollte sogleich aussteigen, als mir der Schaffner zurief, daß niemand den Zug verlassen dürfe, bevor nicht der Gendarm die Pässe abgefordert hat. Ach richtig I Ich bin ja nun in Ruß landl Hierin hatte sich also gegen früher noch nichts geändert, und es war mir das erste sichtbare Zeichen, daß die russische Revo lution nicht so energisch mit altem Zopskram aufgeräumt hat wie weiland ihre große Schwester in Frankreich, die all den Plunder einer beengenden absolutistischen Herrschaft kurzer hand über Bord warf und den Boden für ein jedem Staats bürger Entwicklungsfreiheit gebendes, modernes Leben vor bereitete. Also abwartenl Endlich erlaubt man den Passagieren aus zusteigen. Mit Sack und Pack und Gepäckträger begibt sich jeder zur Zollhalle. Die große Anzahl der hier versammelten Tschinow- niks läßt den Fremden eine schnelle Zollabfertigung erhoffen, will man doch noch im Speisesaal sich in Ruhe für die bevorstehende Weiterfahrt stärken. O du ahnungsloser Engel! Nicht um sonst bist du mit Überschreiten der Grenze dreizehn Tage hinter der modernen Kultur zurückgeblieben. Wappne dich nur dreimal mit Geduld und Ruhe, wenn du in Rußland allen Schikanen und Schwierigkeiten aus dem Wege gehen willst! Vorläufig stehen die Herren vom Tschin noch in aller Gemüt lichkeit beisammen, rauchen ihre Zigaretten, plaudern, trinken ihren Tschai und spucken auf den Fußboden. Neben mir packi ein Monteur, der im Aufträge einer deutschen Firma nach Moskau geht, seine Apparate aus und memoriert eine mit den deutlichsten Scheltworten gespickte Rede, die er jedenfalls in Ermangelung von Handbomben den Zöllnern an den Kopf werfen will, falls sie es wagen sollten, sein Arbettsmaterial mit Zollgebühren zu belasten. Auch mir bangt um mein Arbeitsmaterial. Ist doch meine Handtasche vollgepackt mit Büchern und Zeitschriften, und wenn diese erst, wie es im-Zakkon-*) oorgeschrieben, an die Zsnsur- behörde zur Prüfung gehen müssen, dann kann ich getrost meine geschäftliche Tätigkeit in Rußland mit einer Reihe von Feiertagen beginnen. Russische Freiheit, was hast du doch für ein merk würdig verschrumpftes und verrostetes Antlitz! Die Revolution scheint dir nicht gut bekommen zu sein! Nun fassen auch die Zollbeamten den hochherzigen Entschluß, ihrer Beamtenpflicht nachzukommen. Rauchend und plaudernd setzt sich ein vier Mann starker Trupp in Bewegung. Bomben und Browningpistolen scheint man nicht zu finden, und so geht die Revision ohne bemerkenswertes Ereignis vorüber. Auch mein Gepäck passiert, nachdem ich vorher die Mappe mit Büchern und Zeitschriften vorsorglich mit meinem Reiseplaid bedeckt habe. Selbst dem Monteur werden keine Schwierigkeiten bereitet; und so kann er leider seine schöne Rede nicht vom Stapel lassen. Dafür schilt er nun wieder, daß man ihn auf seinen früheren Fahrten nicht so anständig behandelt habe. Jetzt fehlt nur noch der Paß, der in der Zwischenzeit geprüft und registriert wird. Ohne Paß ist ein menschliches Dasein in Rußland überhaupt ausgeschlossen. — Endlich haben sämtliche Passa giere ihren Paß in Händen, und nun öffnet ein Gendarm, eine reichliche Stunde nach Eintreffen des Zuges, die Türen und er laubt uns, in das heilige Rußland, Pardon, in den Speisesaal I. und II. Klaffe einzutreten. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, sich für die Weiterfahrt zu stärken. Noch schnell einen Thee und dann heißt es: Einsteigen in den Zug nach Warschau! Die russischen Waggons sind sehr bequem und, was bei den langen Fahrten doppelt angenehm empfunden wird, auch gleich zum Schlafen eingerichtet, so daß jeder Passagier, der gezwungen ist, die Nacht durchzufahren, auch die Gewißheit hat, in aller Bequemlichkeit sich ausruhen zu können. Ich bin nun schon weit in Rußland; aber die Unterhaltung der Reisenden wird fast ausschließlich in deutscher Sprache geführt. Ein Kaufmann aus dem polnischen Industriezentrum, der von einer Geschäftsreise aus Deutschland zurückkehrt, erzählt, wie es ihm von Jahr zu Jahr schwerer fällt, sich bei seinem Aufenthalt in Deutschland an die nach der Uhr geregelte Tätigkeit und hastende Arbeit zu gewöhnen. Ja freilich, je mehr man nach Osten kommt, desto ruhiger gestaltet sich das Erwerbsleben. Ein zivilisierter polnischer Händler aus Warschau, wenigstens insofern zivilisiert, als er keinen Kaftan mehr trägt, sieht sich veranlaßt, einen Lobgesang auf Deutschland und deutsches Leben vom Stapel zu lassen. O wie selten hört man als Deutscher im Auslande etwas Gutes über sein Vaterland, und nun noch aus solchem Munde! Aber der Mann hatte gelegentlich irgendwo zehn Mark verloren, und diese waren, wunderbarer Weise bei der Polizei als gefunden deponiert, ihm von dem Beamten ohne irgendwelchen Abzug herausgezahlt worden. So etwas ist allerdings in Ruß land unmöglich. Die Gegend, die der Zug durcheilt, ist wenig interessant; es ist gegen 4 Uhr morgens, schon Heller Tag, aber im Coups sinkt einer nach dem andern in teils tiefen, teils sehr geräuschvollen Schlaf. Erst kurz vor Warschau wird es wieder munter; man dehnt sich, macht Toilette so gut man kann, sucht sein Gepäck zusammen, der Zug rollt in die Halle ein, und die für wenige Stunden zusammengewürfelte Reisegesellschaft eilt nach allen Richtungen auseinander. Da ich, ohne Aufenthalt zu nehmen, nach Petersburg weiter fahren will, so heißt es auf schnellstem Wege zu dem auf dem jenseitigen Wsichselufer gelegenen Petersburger Bahnhof zu gelangen. Im schlanken Trabe fährt mich der Jswoi durch die Marschalkowska, am Sächsischen Garten vorbei über die Weichsel brücke durch die Prager Vorstadt zum Bahnhof. Infolge der Nachtfahrt tut ein Frühstück gut; es bleibt mir ja genügend Zeit bis zum Abgang des Zuges. Wie ich dann am Schalter ein Billet lösen will, muß ich zu meinem Schrecken hören: Hier ist der Moskauer Bahnhof; wenn Sie nach Petersburg wollen, müssen Sie zum Petersburger Bahnhof; der ist fünf zehn Minuten von hier entfernt. O solch ein von Jswoi; ich habe ihm doch laut und deutlich: -Lotorbur^eLij ^Vollsall!- in seine schmutzigen Ohren gebrüllt. Na, da Hilst nun nichts: ich winke einen Gepäckträger heran und durcheile mit ihm verschiedene Gassen der Prager Vorstadt, dem Eldorado der polnischen Juden. Hier ist der Schmutz zu Hause, Wasser und Seife unbekannt. Wer verspürt nicht zunehmende Appetitlosigkeit, wenn er diese alttestamentarischen Gestalten in schmierigem, wie es scheint von Generation zu Generation vererbtem Kaftan in den Fleischer- und Bäckerläden hantieren sieht! Gott sei Dank, nun bin ich, diesmal aber am richtigen Bahn hof! Pünktlich mit zwanzig Minien Verspätung setzt sich der Zug in Bewegung. Die nächsten vierundzwanzig Stunden Fahrt müssen auf möglichst angenehme Art verbracht werden. Am besten, man geht in den Restaurationswagen, wo das Rauchen oerständtgerweise noch nicht verboten ist. Bei einer Flasche leichten Krimweines kann man in Muße die Gegend betrachten. Leider ist sie ziemlich monoton, viel Wald, armselige Dörfer, ab und zu einige Datschen, die Sommervillen vermögender Stadt leute, aus Holz gebaut. Vergebens sucht man anmutige Land schaftsbilder, die einem sonst die Beschwerlichkeiten langer Reisen vergessen machen. Ernst und schwermütig ist die Landschaft. Wir passieren nacheinander Bialystok, Grodno, Orani und einige andere kleinere Städte. Der Aufenthalt aus den Sta tionen ist ungewöhnlich lang; Gendarmen begleiten den Zug von Ort zu Ort, ein Zeichen, daß Russisch-Polen sich immer noch im Belagerungszustände befindet. Auf den breitspurigen Gleisen der russischen Bahnen läuft der Zug sehr ruhig dahin, und so ist der Aufenthalt im Restaurations- wagcn sehr angenehm. Auch das Essen ist vorzüglich. Reisenden, denen das Russische nicht geläufig ist, empfehle ich, sich in Rußland nicht an das Sprichwort: -Was der Bauer nicht kennt, das ißt er nicht- zu halten. Nur getrost und munter die am schwierigsten zu ent ziffernden Worte aus der Speisenkarte herausgesucht und beim Ganymed bestellt; man wird selten einen Fehlgriff dabei tun! Am Abend läßt man sich vom Schaffner seine Lagerstätte zu recht machen und kann nun ungestört und bequem in der Nacht ausruhen. Am frühen Morgen passieren wir Gatschina, einst die Sommer residenz Kaiser Alexanders III., die Datschen mehren sich von Kilo meter zu Kilometer, ein Zeichen, daß wir uns der Hauptstadt nähern, und bald fährt der Zug fahrplanmäßig mit anderthalb Stunden Verspätung in den Warschauer Bahnhof in St. Peters- ! bürg ein.
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