^ SS, lg, April 1911, Künftig erscheinende Bücher, Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 4831 Ein Versuch, unser Politisches Leben aus der Parteiphrase zu erlösen /^eit etwa einem Jahr hat in der Stellung der gebildeten Schichten zum Staat ein deutlicher Umschwung stattgefunden. Früher sagte man zweifelnd: was kann denn der Einzelne für das Staatsleben tun, die Schlagworte der Parteien beherrschen doch die Menge. Man überließ es der Regierung, den Karren des öffentlichen Lebens weiter zu schieben. Jetzt dagegen empfindet man, es gehe nicht mehr länger an, teilnahmslos nur als Beobachter beiseite zu stehen, das staatsbürgerliche Bewußtsein hat einzusetzeu begonnen, und man ahnt, daß man sich mit wirtschaftlichen Zusammenhängen befassen muß, falls man von ihnen nicht erdrückt werden soll. Aber wo soll sich der Gebildete tiefer belehren? (^P>ir haben dem Verein für Sozialpolitik und ähnlichen Unternehmungen viele wertvolle Einzeluntersuchungen über wirtschaftliche Verhältnisse zu ver danken, die sozialwissenschafkliche Literatur behandelt mit immer größerer Gründ lichkeit alle Probleme, und trotzdem verflacht die politische Debatte innerhalb der Parteien in umgekehrtem Verhältnis. Liegt die Ursache dieser Erschei nung an einer mangelnden Synthese von Wissenschaft und Leben? Liegt es daran, daß uns eine führende Persönlichkeit innerhalb der Negierung oder unter den praktischen Politikern fehlt? Oder fehlt uns vor allem ein Kreis gleichgesinnter Persönlichkeiten, die die Politik weiter fassen als nur Ver tretung materieller Interessen, und ein sie nicht mißverstehender Zuhörerkreis? /Ls ist bequem, auf die kommende große Persönlichkeit zu hoffen, die den ^ ringenden Ideen einen klaren Ausdruck und ein festes, erreichbares Ziel geben soll. Aber dürfen wir ziellos sein und die Lände in den Schoß legen, trotz dem wir in einer großen Zeit leben? Denn überall regt sich Neues, und wie die Wissenschaft neue Erkenntnisse und Zusammenhänge sucht, sucht unser ganzes politisches und wirtschaftliches Leben nach neuen Formen. L>>ein, wir dürfen nicht länger warten. Schon Fichte sprichtesaus; derEin- zelne soll, ohne Beamter zu sein, seine Persönlichkeit in den Staat hineintragen. Die einzelne Persönlichkeit ist nicht reich und umfassend genug, um eine Idee völlig zu verkörpern und ihr in der Wirklichkeit zum Sieg zu ver helfen. Was der Idee den Sieg verleiht, ist die Organisation, die sie der Menge näherbringt. Darum appelliere ich an den Sortimentsbuchhandel, mitzuhelfen, um die nötige Organisation: eine sozusagen unsichtbare politische Kirche zu schaffen. Möge er diese Aufgabe so ernst nehmen, wie ich es tue! Jena Ostern 1911 > Eugen Diederichs