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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 14.02.1900
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- Erscheinungsdatum
- 14.02.1900
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- Deutsch
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vor die nackte Weiblichkeit zu setzen und nach der Natur zu zeichnen. Meine Bemerkungen wenden sich gegen die ganze Tendenz des Antrags, und diese Tendenz ist meiner Meinung nach gerichtet gegen die Nudität an sich. Wir haben in der letzten Zeit in Berlin einige Fälle erlebt, von denen der Herr Kollege Müller schon so freundlich war, einen Teil vorzutragen. Ich möchte aber noch eins hinzufügen zum Beweise, wie weit schon bei der heutigen Judikatur durch mißbräuchliche Anwendung des tz 184 des Strafgesetzbuches die Einschränkung der Kunst geht. Im alten heiligen Köln ist vor einigen Jahren ein Künstler bestraft worden, weil er das ungemein keusche Kunstwerk Canovas »Drei Grazien- im Fenster ausge stellt hatte. Wenn das schon heute gilt, begreift man wahrlich nicht, wozu wir dies neue Gesetz brauchen. In den letzten Tagen hat in Berlin ein wegen seiner berufenen und unberufenen Zuschriften sehr bekannter vornehmer Herr der Kunsthandlung Keller L Reiner die Einlaßkarte zurück geschickt. weil darauf ein nacktes Weib abgebildet ist. Das ist ganz derselbe Geist, den ich gekennzeichnet habe, der sich aufregt und Aergernis nimmt an einem nackten Weibe. Ge wisse Lebenskreise, in denen die Jugend durchaus nicht be sonders viel Wert aus die Keuschheit zu legen pflegt, sind merkwürdigerweise heute an die Spitze bei dieser derartigen sogenannten Sittlichkeitsbewegung getreten. Was einen aber besonders verwundern muß. ist, daß diese gegen die Nackt heit gerichtete Bewegung vertreten wird von Leuten, die ihrer religiösen Ueberzeugung nach auf dem Standpunkte stehen müßten, daß der Menschsnleib das Bild Gottes ist. daß Gott den Menschen zu seinem Bilde geschaffen hat. und die deshalb wirklich Veranlassung hätten, in dem nackten Mcnschenleibe das Göttliche zu sehen und ihn nicht zu per- horreszieren. Was diesem Gesetz zu Grunde liegt, ist meiner Mei nung nach eine ganz gefährliche Tendenz: der Haß gegen das Fleisch und die Furcht vor dem Fleische. Die Kunst kann das Nackte nicht entbehren; sie würde sich selbst und die Wahrheit verleugnen. Nun ist uns gesagt worden, daß das Gesetz ganz not wendig wäre, um die Jugend zu schützen. Nach meiner Meinung hat keinem einzigen Menschen ein solches Bild die Keuschheit seiner Seele oder seines Leibes gekostet. Ich, sür meine Person, bin ausgewachsen in der An schauung klassischer Bildwerke, lauter Nuditäten, und das hat mir in den frühesten Jugendjahren jene glückliche Unbefangenheit gegeben, die eben keinen lüsternen Gedanken hat. wenn sie etwas Nacktes sieht. Glauben Sie mir: je mehr Sie die Jugend von derartigen Dingen absperren, desto mehr wittert sie in allem die verbotene Frucht, und desto gieriger greift sie danach, und sie wird immer Wege finden, sich die verbotenen Früchte zu verschaffen. (Sehr richtig! links.) Wenn nun aber die Herren so sehr bedacht sind, die keusche Jugend vor unkeuschen Schriften zu schützen, wenn sie zum Beweise der Notwendigkeit eine Reihe von Geschichten erzählen und Beispiele vorlegen, so möchte ich sie darauf aufmerksam machen, daß ab und zu auch durch die Presse Erzählungen gehen, die durch Thatsachen belegt werden, von der Verderbnis, der große Teile unserer Jugend ausgesetzt sind durch die Unterhaltungen über die Notwendigkeit der Keuschheit, die im Beichtstuhl und in der Rcligionsstunde gepflogen werden. (Lachen in der Mitte.) Dieser Paragraph richtet sich aber nicht nur gegen Bilder, sondern auch gegen Schriften, gegen Dichtwerke, und darin liegt nach meiner Meinung eine ganz besondere Gefahr. Ich befürchte, daß mit Hilfe dieses Gesetzes die Judikatur sich ge wöhnt. das als unkeusch, als das Scham- und Sittlichkeits- gesühl verletzend zu bezeichnen, was zu unseren größten und bedeutendsten Kunstwerken gehört. Goethes Tagebuch »Die Wahlverwandtschaften«. Walthers von der Vogelweide be kanntes Lied »Unter den Linden an der Haide« schildern den Geschlechtsakt, schildern ihn ungeniert und offen, und noch niemand hat an diesen Werken etwas Unzüchtiges entdeckt; aber nach diesem Gesetz würde die Verbreitung dieser Werke und auch nur die Auslegung derselben in den Buchhand lungen strafbar sein. Das Gesetz leitet an einer so großen Unbestimmtheit im Ausdruck, daß man es schon aus diesem Grunde be kämpfen muß. Wie stellt man es sich vor. daß Schriften in ärgerniserregender Weise ausgestellt werden sollen? Wenn das Gesetz in dieser Beziehung überhaupt je an gewendet werden soll, so kann das nur dadurch geschehen, daß die Gerichts in der Ausstellung des bloßen Titels eines Werkes schon das öffentliche Aergernis erblicken. Es wird immer alte Weiber männlichen und weiblichen Geschlechts geben, die Aergernis daran nehmen, wenn sie einen sie auf regenden Titel im Schaufenster sehen. Ich habe eine Frau gekannt, die nicht am Schilde einer Hebamme Vorbeigehen konnte, ohne daß sie sich schämte (Heiterkeit). und es giebt Leute, die sich schämen, wenn sie den Titel eines Buches sehen, in dem eine Vorlesung über die Ge- schlechtsverhältnisse des Menschen angekündigt wird. Was sind ferner »öffentliche, dem Verkehr dienende Orte«? Der Herr Abgeordnete Roeren hat ausgesprochen, daß nur die Ausstellung im Schaufenster strafbar sein soll. Nun. auch die Läden sind dem öffentlichen Verkehr dienende Orte. Es würde also auch z. B. die Kunsthandlung von Keller <K Reiner, oder jeder andere Kunsthändler, der gegen Einlaßkarten zur Besichtigung seiner Bilder Eintritt gewährt, strafbar sein. Wir haben in unserer Judikatur eine solch ausdehnbare Auslegung des Begriffes des »öffentlichen, dem Publikum zugänglichen Ortes«, daß es nicht bloß eine zu befürchtende Gefahr, sondern eine auf der Hand liegende That- sache ist: es würden die sämtlichen Privatkunstausstellungen unter dieses Gesetz fallen. Auch die öffentlichen Kunst ausstellungen würden aus diesem Grunde von dem Gesetze betroffen werden, ganz abgesehen davon, daß jeder Maler seine Bilder zu geschäftlichen Zwecken auszustellen pflegt, und daß er deswegen immer gefaßt werden könnte. Die Folge dieses Gesetzes würde weiter nichts sein als eine Reihe von unsinnigen Denunziationen, wie sie jetzt schon von Schnüfflern vom Männerbund für Unfittlich- keit täglich in Berlin vorgenommen werden. Denunziationen, die weiter nichts zu Wege bringen würden, als das reelle Geschäft und die Liebe zur Kunst zu unterdrücken und zu schädigen. Wir können allen denen, die an dem Paragraphen Mitwirken, den Vorwurf nicht ersparen, daß sie vielleicht unbewußt einer Geistesrichtung Vorschub leisten, einer Prüderie, die in ihrem innersten Kern unkeusch ist. (Bravo! links.) Präsident: Das Wort hat der Herr Kommissar des Bnndesrats. Kaiserliche Wirkliche Geheime Ober-Rcgierungs- rat von Lenthe. von Lenthe, Kaiserlicher Wirklicher Geheimer Ober- Regierungsrat. Kommissar des Bundesrats: Meine Herren, der Herr Abgeordnete Heine hat gestern bereits bei Beratung des tz 184 seine Ansicht in betreff dessen ausgeführt, was als unzüchtig zu bezeichnen ist. Er hat damit einen Tadel der neuerlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts verbunden, indem das Reichsgericht abweichend von dem früher ein genommenen Standpunkt jetzt in der Interpretation des Un-
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