11984 Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Fertige Bücher 263, 11. November 1907. Rudolf Herzog über Carl Conte Scapinelli's „Phäaken" /t^arl Conte Scapinelli, der österreichische Autor, der schon in früheren Werken eine unge- wohnlich scharfe Beobachtungsgabe für österreichische Sondererscheinungen an den Tag gelegt, führt uns mit seinem neuen Roman „Phäaken" mitten ins Wiener Leben hinein. Nicht in das Wien der Eleganz, der vorbildlichen Salons, der geistvollen Diplomatie oder der lustigen Kom- tesscrlen. Dort finden wir Weltleute wie anderswo, die höchstens noch in der Sprache mit dem gemütlichen Wiener Akzent kokettieren. Seapinelli führt uns in das Wien, das sich allein noch für das „alte echte Wien" mit dem „goldenen Herzen und tiefen Gemüt" hält, das an den Tradi tionen der Stadt und ihres Lebensstromes festhält, so fest, daß sich diese „echten" Wiener beständig in einem kleinen Freudcnräuschchen befinden, sich für des Herrgotts Lieblingskinder halten und sich staunend und verständnislos die Augen wischen, wenn sie eines Tages jäh bemerken, daß das vorwärtsstürmende Leben sie dahinten gelassen hat. Der Mittelstand ist's, Gewerbetreibende, kleine Kauflente, Fiakerhalter, mittlere Beamte. Der Mittelstand, das Herz eines Gemeinwesens. Es ist keine sanfte Hand, mit der Scapinelli sie beim Kragen nimmt, die Phäaken Wiens, sie rüttelt und schüttelt und sie in den Spiegel Hineinblicken läßt, ihr gedunsenes Bild zu sehen. Und es gehört ein hoher sittlicher Mut dazu. Denn um der Sensation willen ist dies Buch ganz gewiß nicht geschrieben, sondern ans einer verzweifelten Liede heraus, die das Letzte wagt, die zur Geißel greift. Gutmütig sind diese Menschen alle, die Scapinelli in seinem Buch Revue passieren läßt, gutmütig, so lange alles nach ihrem Willen geht, so lange sie sich nicht auszuregen brauchen, ihnen ihr Schöpplein Wein, ihr Brathähndl, ihr Weiberl und eine fesche Hatz winkt, die Arbeit von selber läuft und das Geld nicht ausgeht. Bösartig nur werden sie, wenn's anders kommt. Und es kommt immer anders, und der Wagen geht über sie hinweg, und viel, allzuviel gutes Material gerät mit unter die Räder. Da ist ein Advokat, ein Freund des Volkes und seines Wienertums, der ihm helfen möchte, ohne der geliebten Eigenart des Phäakenvölkchens zu nahe zu treten. Das leuchtet der lebenslustigen Gesellschaft ein. Und statt sich von ihm emporziehen zu lassen, ziehen sie ihn zu sich hinab, saufen Brüderschaft mit ihm, jubeln ihm zu, während er für sie arbeitet, und lassen ihn im Stich, wo auch sie die Arme rühren sollen statt des Mundwerks. Es ist ein Kulturbild von einer großen Tragikomödie, das Scapinelli entrollt, aber mehr und mehr überwiegt die Tragik und sie führt bereits die Zügel, während die Akteure noch blindlings ihre alte Komödie weiterspielcn. Unentwegt legt Scapinelli die Sonde an, und wo immer er sie anlegt, er trifft auf eine faule Stelle, und er legt sie bloß und tritt tief- aufatmend zur Seite. Ein gewaltiges Mitleiden ist in dein Autor, und es springt auf den Leser über, wenn er die Menschen sieht, die den Todeskeim in sich tragen und immer und immer wieder nach einem. Walzer verlangen. Und das Mitleiden ist deshalb da, weil es um Menschen von sprudelnder Lebensfreude geht, um eine Lebensfreude aber, die unverdient genossen werden soll, als ewige fröhliche Alltagskost, nicht als Fciertagsgericht. Das ist's, weshalb Scapinelli dieses Buch schrieb, diese hundert und aberhundert Schäden aufdeckte in der Beamtenschaft, der Bürger schaft, der kommunalen und politischen Welt Wiens. Wie weit der Autor das Urbild erreichte,