2806 Börsenblatt s, d. Dtschn. Buchhanoel. Künftig erscheinende Bücher. 60, 13. März 1907. Verlag von Egon Fleische! öc Co., Berlin Am 15. April erscheint: ^dsolvo t6 Roman von C. Viebi§ ^ Mit Buchschmuck und Amschlagzeichnung von Georg Tippe! Geh. M. 5.—; geb. M. 6.—. Prachtexpl. auf Büttenpapier in Leder (numeriert 1—50) M. 12 — ^bsolvo te — ich spreche dich los! Es ist die Formel, mit der der katholische Priester den beichtenden Sünder freispricht, der verstehende Seelsorger dem Reuigen verzeiht an Gottes Statt. Wenn Clara Viebig dieses bedeutungsschwere Wort ihrem neuen Roman als Titel, gewisser maßen als Motto vorangestellt hat, so wollte sie damit wohl zum Ausdruck bringen, daß ihre sün- denbeladene Leldin in all ihrem grausen Tun eine fromme Gläubige der katholischen Kirche bleibt, und daß ihr als solcher die Absolution gewiß ist. Die Dichterin enthüllt dem Leser eine merkwürdige Frauenseele bis in ihre feinsten Verästelungen und läßt ihn einen tiefen Blick tun in ein von Leiden schaften zerwühltes Lerz, in dem Religion und verbrecherische Lust dicht beieinander wohnen. Ja noch mehr, man gewinnt die Überzeugung: gerade die Frömmigkeit und Gläubigkeit, gerade der un erschütterliche Glaube an die Macht der Leiligen, die nichts Gutes, aber auch nichts Böses geschehen lassen, das sie selbst nicht gewollt oder gar geför dert haben, gibt dieser Frau erst den Mut zum Verbrechen. So handelt der leidenschaftliche Roman von der zerrüttenden Gewalt des religiösen Fanantismus, einer Gewalt, die den menschlichen Willen in beinahe fatalistijcher Gebundenheit zeigt. Dieser, tiefste sittliche Probleme berührende Gedanke ist von Clara Viebig, ohne jede tendenziöse Vordringlichkeit, in einer äußerst spannenden Land- lung entwickelt, die im Milieu des „Schlafenden Leeres", in der Provinz Posen spielt. Die Lel- din des Buches, die „schöne Frau Tiralla", ist eine Schöpfung, die in ihrer künstlerischen Durchführung als ein eigenartiges Seitenstück zu Flauberts berühmter „Madame Bovary", mit der sie bei aller Wesensverschiedenheit doch eine gewiffeseelischeVerwandtschaft verbindet, angesehen werden kann. Daneben wird dem Leser eine Fülle außerordentlich plastisch gezeichneter Figuren vorgeführt. Vor allein die vollsaftige Gestalt des Lerrn Tiralla und die überaus lebensvolle der Magd Marianna sind mit wahrhaft Rubens scher Farbenkraft gemalt: dagegen gemahnt, als zarter Kontrast, die rührende Mädchengestalt Rozias an Botticellis Jungfrauen. Niemals vorher ist es der Dichterin gelungen, so kräftige und so zarte Töne in einem Gemälde zu ver einen. In jeder Beziehung zeigt dieser Roman Clara Viebig auf einer künstlerischen Löhe, die auch ein großes Talent nur erreicht, wenn es mit nimmermüder Selbstzucht an sich arbeitet.