1522 Künftig erscheinende Bücher. 37. 15. Februar 1901. Am 2b. Februar gelangt zur Ausgabe: Aus der Schneegrube Gedanken zur Natnrforschung von Wilhelm Bölsche Dritte Auflage Preis geheftet 6 gebunden 7 ^ 50 H. Ich lasse statt aller weiteren Empfehlung die Besprechung von Heinrich Hart in der -Woche- folgen. Es ist eine Zeit der Bekenntnisse. Nach Jahren des Schwankens und Zweifelns, der Blasiertheit und Gleichgültigkeit tritt jetzt überall der Drang zutage, feste Stellung zu nehmen zu den höchsten Problemen des Wissens und Denkens, des Wollens und Sehnens und Zeugnis abzulegen von der Entscheidung, die man getroffen. Zeugnis entweder von der Treue zum Alten oder vom Glauben an das Neue. Ein solches Zeugnis und Bekenntnis ist auch Wilhelm Bölsches jüngstes Buch: Aus der Schneegrube; in starrer, dogmatischer Form, noch weniger ein plumper Über- redungs- und Bekehrungsversuch, sondern ein Bekenntnis, dessen Werden und Wachsen wir miterleben wie ein Stück eigenen widerstrebt, wird aus seinen Darlegungen reichen Gewinn schöpfen, auch jener, der noch ganz in Vergangenheitsanschauungen und -empfindungen steckt, wird sich dem Zauber des Buches, besonders in seinem ersten Teil, nicht ganz entziehen, und fast ein jeder wandern können. Denn es ist kein Buch des Kampfes, sondern ein Buch der Versöhnung; es sucht nicht sowohl das Trennende, das Unentscheidbare, das rein Individuelle hervorzuheben, sondern einigen, auf der alle weiterbauen können, alle, die guten Willens und klaren Geistes sind. Im wesentlichen bedeutet das Buch ein Bekenntnis zur „Natur", zur Allnatur, die kein toter Mechanismus und in keinerlei Grenzen einzuschränken ist. „Der Begriff Natur muß für alles Wohnungen haben, was uns bewegt . . . Das Subjektive und das Objektive muß hinein, das Konventionelle - Wirkliche, und die ständige Möglichkeit des Elementaren, das Jetzt und das Empor, das Unvollkommene und der ewige Harmonienweg, die Stufe und das Ideal, die Folge und der Sinn, der Mensch, der aus glühenden Sonnen des Alls sich ent wickelt hat, und der Mensch, der sich fortentwickelt auf Sonnen des Denkens, des höheren Zwecksetzens, des Weltordnens und Weltgenießens, des künstlerischen Harmonienschaffens zu." Bölsche ist es darum zu tun, nachzuweisen, und nicht nur nachzuweisen, sondern auch mit Inbrunst zu verkündigen, daß die neue Welt anschauung, die Natur statt Gott, Entwicklung statt Offenbarung setzt, nicht notwendig in kahlere, kältere Regionen führt, als die alte, daß in ihr Raum ist für allen Idealismus und alle Ideale, für die beglückendste Liebe wie für die seligsten Hoffnungen. An einem Frühlingstag klimmt der Verfasser durch die Felsen und Schründe des Ricsengebirges. Von weitem scheint es, als ob die Vertiefungen, die Kessel, die Schneegruben noch ganz mit winterlichem Schnee erfüllt seien. Wenn man aber näher heran kommt. zeigt es sich, daß die vermeintlichen Schneeflächen Teppiche duftender weißer Anemonen sind. Und die Wirklichkeit wird dem Erkennenden zum Gleichnis. Auf Einzelheiten des Buches kann ich hier nicht weiter eingehen. Nur das sei noch hervorgehoben, daß Bölsche in ausführlicher Dar legung die oberflächliche Ansicht bekämpft, als ob der Darwinismus schon wieder überwunden sei. Unter diesen Nachweis gehört auch das Kapitel, in dem Bölsche die Mutationslehre des Holländers De Vries in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung klarlegt; nirgendwo zeigt sich deutlicher, was für ein Meister der Darstellung er ist, wie er es versteht, eine Lehre so ganz und gar in lebendige An schauung, in Bild und Erregung umzuwandeln. Ein Pendant zu diesem Bild ernsten, klaren Forschungsstrebens bietn das fröhliche Kapitel, in dem der Spiritismus abgefertigt wird. Wie im Inhalt, so ist auch formell-stilistisch das Buch ein echter Bölsche; Dichter und Forscher, Phantasie und Wissen, Kopf und Herz haben in harmonischer Gemeinschaft daran geschaffen. Von der Kühle, die der Titel zu atmen scheint, weht in dem Buch nichts; es ist mit sonniger Wärme geschrieben und macht warm. Heinrich Hart. Alle noch rückständigen Bestellungen kann ich nunmehr erledigen; ich bemerke jedoch, daß ich L condition-Bestellungen vor aussichtlich nur ganz vereinzelt werde berücksichtigen können. Bitte verwenden Sie sich auch weiterhin für das schöne Buch, von dem sich in Zeit von 5 Monaten drei starke Auflagen Dresden, 15. Februar 1904. Carl Rechner