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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 09.06.1934
- Strukturtyp
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- 1934-06-09
- Erscheinungsdatum
- 09.06.1934
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- Deutsch
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X- 132, 9. Juni 1934. Redaktioneller Teil. Börsenblatt s. ü. Dtschn Buchhandel. Der Untergang des Lesers und die Zukunft. Von Theo L. Goerlitz. Ein bedeutungsvoller Stand ist in den letzten Jahren immer mehr von unerbittlichen Schicksalen dahingerasst worden, sodaß er fast dem Aussterben nahe ist; das ist der merkwürdige Stand der Leser, der einst einen gewaltigen Prozentsatz dieses lebendigen Volkes ausgemacht hat. Erinnern wir uns, welche Rolle das Buch noch bei unsern Vätern und Müttern gespielt hat, erinnern wir uns, was für eine unwahrscheinliche Rolle die wirkliche Welt im Leben des Bürgers spielte, wie ihn aber statt dessen das Buch, in dem das wirkliche Leben für ihn beschlossen lag, bis in seine Träume verfolgte. Denken wir an das lesefreudige Zeitalter der schwärmenden Frauen, der bezopften und behaarschleiften Backfische und der die Buchhandlungen belagernden Jünglinge von einst, und setzen wir daneben in unserer Vorstellung dieses lesefeindliche Zeitalter, in dem die Buchhandlungen daliegen wie verlassene Wallfahrtsorte, denen die Gläubigen untreu geworden sind. Es wird einem un heimlich zumute, wenn man den Ursachen dieser Wandlung nach geht, und wenn man es gar unternimmt, zum hundertsten Male diese Ursachen mit schmerzlichem Augenaufschlag in die Welt zu sprechen. Das aber scheint mir am wenigsten notwendig zu sein. Was hat es für einen Zweck, immer wieder die Hoch-Zeiten des deutschen Buchmarktes von einst zu loben und daneben mit spitzem Finger der Anklage auf die bösen Zerstörer dieses einstigen Glückes hinzu weisen, aus Rundfunk und Film, auf Überproduktion und Dilettan tismus oder auf die Wirkungen des geistigen Niederganges der Nation. Das alles, soweit cs geschadet, gehemmt oder zerstört hat, ist genugsam bekannt, und es wäre müßig, hieraus nur mit Be dauern einen Untergang des Lesers folgern zu wollen. Haben nicht die eigentlichen Gründe dieses Niederganges ganz andere Ursachen, liegen sie nicht in einer viel früher entstandenen, eben in der, wie ich zu Anfang schilderte, daß der Bürger eines bürgerlichen Zeitalters die wirkliche Welt verachtete und statt dessen zum Buch als ihrem Ersatz, nicht als ihrer Gestaltung griff. Mußte dieses Unrecht wider das Leben, diese tiefe, wenn auch unbewußte' Verlogenheit nicht eine Rache des Lebens selber nach sich ziehen, — und bestand dieses Unrecht nicht in erster Linie darin, daß man sich als Leser aus der »wirklichen« Welt in dis Welt des Buches flüchtete, nicht weil man die tiefere Wirklichkeit im Wesen der Gestaltung suchte und darin erleiden wollte, sondern weil man vor der wirklichen Welt einfach eine höllische Angst hatte, weil die Trägheit des Herzens einem zu dieser Flucht bewogen hatte. Wenn man dies bedenkt, so will es einem scheinen, als ob es bis heute noch gar keine richtigen Leser gegeben hätte, als ob man diesen Stand erst von Grund aus erschaffen müßte, um dem Buch und seinem eigenartigen Leben gerecht zu werden. Dieser Glaube kann traurig machen, aber er kann auch beglücken, weil er eine gewaltige Aufgabe verleiht und, was noch erfreulicher ist, eine Aufgabe, die sich erfüllen läßt, wenn man sie richtig angreift. Jawohl! Es gilt den Stand des Lesers erst zu schaffen! Es gilt, Menschen zu erziehen, die das Buch ergreifen, um darin die tiefere Wirklichkeit zu finden, nicht um aus der Wirklichkeit davonzulaufen, als ob das Buch ein Opium oder ein Traumgift an d e r e r A r t w är e. Es gibt keine Träume, sondern es gibt nur heiligere Wirklichkeiten, zu denen eben das Auge des Dichters Vordringen kann, und für deren Erlebnis es des gleichen Mutes bedarf, wie zum Erlebnis der gröberen Wirklichkeit, des Lebens selber. Schaffen wir also einen neuen Leserstand, schaffen wir über haupt erst den Leser als einen Menschen, begabt mit einer neuen, geheimnisvollen Fähigkeit, aus dem Nichts. Es genügt nicht, daß die Menschen um eines Buches willen eine Haltestelle der Straßenbahn überfahren, es genügt nicht, daß sie sich für ein paar Stunden in den Zeilen dieses Buches verlieren, sondern es ist notwendig, daß sie sich gerade in jeder Zeile des Buches zuinnerst wiedersinden lernen. Man sollte nie mals die letzte Seite eines guten Buches mit dem Bedauern Um schlagen, daß nun ein schöner Traum zu Ende ist, sondern man muß lernen, daß das eine so lebendig ist wie das andere, die sogenannte Wirklichkeit und die gestaltende Kunst, daß mit der letzten Seite ein anderes Stück des Lebens beginnt, dem wir geläutert begegnen müssen. Der neue Leser, den wir erschasfen wollen, soll keinen Unterschied machen zwischen dem Buch, zwischen der Kunst und dem Leben. Denken wir an den besten Lehrmeister, an Goethe, der ein Leben einsetzte, um diese ebenso ernste wie heitere Einheit zu er langen. Nur der scheint mir der rechte Leser zu sein, der aus der Wirkung eines wundergläubigen Buches auch an die Wunder des Lebens zu glauben beginnt, der den großen Roman einer Liebe oder ein heldisches Epos zum Anlaß nimmt, wieder die Liebe und den Helden in der Welt zu entdecken. Das nämlich ist ein übler Glaube des Lesers, daß der Dichter eben nur dichte. Freilich dichtet er, aber was bedeutet das anderes, als Schönheit zu finden, die der andere nicht sieht, Geheimnis zu offenbaren, das bis heute verschlossen gewesen ist, und mit des Geistes Flügeln sich dorthin zu erheben, wo kein körperlicher Flügel sich zu uns gesellt. Kei nesfalls aber heißt dichten lügen, was auch der fort schrittliche Leser dieses Jahrhunderts noch zuweilen meint, eben sowenig wie es eine Reportage des Lebens bedeutet. Aber wir wollen hier nicht von der Dichtung reden, sondern vom Leser, für den eine große Anzahl von Schätzen gehäuft liegt, nach denen er nur zu greisen brauchte, wenn er nur verstände ein Leser zu sein, wenn er aushören würde, das Buch abzugrenzen gegen das Leben, wenn er sich belehren ließe zum richtigen Leben und damit auch zum richtigen Lesen. Es hat schon Zeiten gegeben, wo einige Bücher ein ganzes Volk zu »Lesern« gemacht haben. So wirkten die Verse Homers und die Hymnen Pindars unter den Griechen. Haben wir doch den Mut, ein neues perikleisches Zeitalter unter uns hervorzubrin gen. Warum sollte einem Volke, dem das gelungen ist, was uns gelungen ist, nicht auch dies zugleich gelingen. Ich habe den Glau ben an ein kommendes perikleisches Zeitalter für dieses ewige Volk. Mögen sich nicht nur die Schassenden durch die höchste Zucht dahin bringen, sondern auch die Empfangenden. Ich sehe mit dem neuen Zeitalter unsterblicher Dichtung auch ein neues Zeitalter des Lesers, ein Zeitalter des neuen Lesers hcraussteigen, der mit der Dichtung seines Volkes so verbunden ist wie mit dem eigenen Leben, ja wie mit dem Leben selber. Es wird statt des weltfremden Lesers von einst der weltfrohe Leser entstehen, dem sich jeder wirkliche Dichter und jeder gute Schriftsteller ohne Scheu hinzugeben vermag. Ich weiß aber auch, daß die Macht des Glaubens nicht allein stehen darf, sondern ihre Ergänzung finden muß durch die Macht der Tat. Wir müssen mit dem innersten Einsatz unsere eigene Prophezeiung verwirklichen helfen, und zwar durch eine ganz neu artige Zusammenfassung und Organisation aller Kräfte. Die eigentliche Forderung besteht zunächst nicht darin, daß man die bedeutenden Bücher der Nation in der Form der Werbung anpreist und zum Kaufe anlockt, überhaupt die kaufmännischen Grundlagen zum geschäftsmäßigen Umsatz des geistigen Gutes der Nation legt. Das alles ist richtig und notwendig. Zuerst aber muß man mit der Erziehung des Menschen zum Leser beginnen, mit einer Neuschaffung des Leserstandes unter Zuhilfenahme aller pädagogischem und sozialpädagogischen Mittel. Als Erzieher können dabei alle auftreten, die dem Schrifttum so verhaftet sind, daß sie in ihrer Vorstellung mit dem Niedergang des Schrifttums auch den Niedergang der gesamten nationalen Kultur verbinden. Nur dann werden sie den notwendigen Fana tismus für diese unbegrenzte Aufgabe erlangen. Wir wissen ja heute, daß die bis heute übliche Buchwerbung nicht mehr aus reichend ist, sondern daß man die Herzen dieses lcseverstockten Volkes mit allen Mitteln bis heute ungebräuchlichster Art aus wecken muß. Will man zu praktischen Vorschlägen gelangen, so könnte man vorerst vier besondere Forderungen aufstellen: Zunächst müssen sich alle dem Schrifttum verpflichteten Volksgenossen, vor allem aber die Dichter selber mit allen dafür einsehbaren Kräften einer großzügigen und allgemeinen Buchwerbung zur Verfügung stellen. Jeder nur etwas bekannte Dichter, und jeder sehr bekannte erst recht, muß sich dahin erziehen, nicht nur die Verbreitung des eigenen Buches aus dem letzten Herbst mit Sorge zu verfolgen,
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