142, LI. Juni 1923. Künftig erscheinende Bücher. I. d. rqchn. Buch«-nd-l. 479Z Am 27. Juni gelangt in Leipzig zur Ausgabe: Geist -er Goethezeit Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte von H.A. Korff a. o. Professor an der Universität Frankfurt a. M. Erster Teil: Sturm und Drang XVI, 321 S., Gr. 8°.— Holzfreies Papier. Grundzahl broschiert 11,50 (Ausland schweiz. Frcs. 11,50), in Halbleinen gebunden 12,75 (Ausland schweiz. Frcs. 12,75). — Schlüsselzahl des Börsenvereins. Rabatt 35°/», Freiexemplare 11/10. er Versuch, der hier unternommen wird, die Literaturgeschichte der „Goethezeit" von der Sturm-und-Drang-Bewegung Abis zum Ausgang der Romantik als einen einheitlichen geistesgeschichtlichen Zusammenhang darzustellen, rechtfertigt sich von selbst durch die eigentümliche Tatsache, daß eine solche Darstellung außer in allgemeinen Literaturgeschichten nicht vorhanden ist. Zwar gibt es klassische Darstellungen des 18. Jahrhunderts (Hettner) oder der Romantik, wie die von Haym oder Ricarda Huch, aber keine Literaturgeschichte, die das Wichtigste leistete, was hier zu leisten wäre: im Gegensatz zu der meist völlig überspitzten Gegenüberstellung von Klassik und Romantik die Darstellung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Zusammengehörigkeit und der darin begründeten geistigen Einheit. Und das äußere Zeichen dieses Zustandes ist es, daß wir zwar die Begriffe „Klassik" und „Romantik", nicht aber in prägnantem Sinne den Begriff der „Goethezeit" besitzen, der in dem vorliegenden Werke für die höhere Einheit der deutschen Geistesgeschichte zwischen 1770 und 1830, der Zeit von Goethes dichterischer Wirksamkeit, in Anspruch genommen wird. Allein der Titel bedeutet ein Programm nicht nur hinsichtlich seines als solchen zum ersten Male herausgehobenen Gegen standes, und das Werk erstrebt die Abtragung einer alten Schuld der deutschen Literaturgeschichtschreibung gegen die größte Zeit des deutschen Geistes nicht nur durch die Umreißung eines zusammenfassenden Gesamtbildes, sondern vor allem auch durch den Versuch, Literaturgeschichte als Geistesgeschichte darzustellen und die klassisch-romantische Dichtung sowohl aus ihrer mono graphischen als auch ihrer literarhistorischen Isolierung zu befreien. Es sieht daher seine Aufgabe darin, die Leistungen der großen Individuen als organische Glieder eines großen überindividuellen Zusammenhangs, und zwar eines Zusammenhangs aufzufassen, der mit der gleichzeitigen Geistesgeschichte, d. h. vor allen Dingen mit der Geschichte der Weltanschauung, aber auch mit den gleichzeitigen politischen Wandlungen (französische Revolution, Befreiungskriege) in unauflöslicher Verbindung steht. In diesem Sinne aber wird hier nun das literarische Gesamtwerk der Goethezeit als Offenbarung eines neu-religiösen Geistes gewürdigt, der, dem mittelalterlichen Christentum wie der westeuropäischen Aufklärung gleichermaßen entwachsen, mit faustischem Drange nach einem neuen und höheren Einklänge mit dem Leben strebt. Und was es für den deutschen Menschen der Gegenwart bedeutet, erscheint danach — denken wir unter anderem an den Faust — am einfachsten mit der Bedeutung vergleichbar, die die Lutherbibel für den Menschen des Reformationszeitalters besessen hat. Denn auch die Bibel ist doch ihrem Wesen nach nichts anderes als ein Kanon heiliger Bücher, in denen sich bald episch, lyrisch, bald didaktisch der Glaube eines Volkes entwicklungsgeschichtlich entfaltet. Wenn es wahr ist, daß Dichtungen — zwar nicht im philosophischen Sinne — „Weltanschauungen", nämlich „Welt-schauungen" oder mit fremdem Ausdruck „Visionen" sind: dann bilden die Dichtungen der Goethezeit die Weltanschauung des deutschen Geistes im Zeitalter seiner höchsten Reise. Das Buch von Korff ist ein Werk von ganz außergewöhnlicher Bedeutung. Es wird in der Literatur über Goethe und seine Zeit einen hervorragenden Platz einnehmen. Verlagsbuchhandlung von H. H. Weber in Leipzig